Wer war das? Wer nahm sich das Recht, sie heimlich zu beobachten? Warum weiß sie nichts von diesem Fremden? Was will dieser Unbekannte eigentlich von ihr?
Während noch Tausend andere Fragen ihr Gehirn durchkreuzten, reckte sie noch einmal hastig den Hals zum Fenster vor, um vielleicht noch den heimlichen Beobachter zu entdecken. Sie guckte sich von rechts nach links, entgegen des Uhrzeigersinns um, und plötzlich durchdrang es sie wie ein Blitz: Ihre Augen trafen sich mit denen eines Jungen. Er stand an der Ecke des gegenüberstehenden Ziegelhauses mit einem Fuß an die Wand angelehnt, trug eine dunkelblaue Jeansjacke, darunter ein weißes T-Shirt und eine ausgewaschene Jeanshose. An den Füßen waren die Sneakers nicht zu übersehen. Sie hatten sogar die gleiche schwarz-weiße Farbe wie ihre! Er versteckte sein Kinn unter dem hochgestellten Kragen der Jacke, als wäre er James Dean, und schaute sie paradoxer Weise selbstbewusst aber gleichzeitig schüchtern aus den Augenwinkeln von unten an und dann lächelte er sie an. Wie konnte er nur? Frechheit. Wie konnte er sie nur so unverschämt anlächeln? Ohne lange zu überlegen machte sie das Fenster zu und zeigte ihm die kalte Schulter. Erst jetzt bemerkte sie, wie heiß es ihr auf einmal war. Der Blick in den Spiegel zeigte ihr, sie hatte glühende Wangen.
„Was war denn bloß los mit mir?“, fragte sie sich. Zuerst muss ich über eine blöde Schwalbe lächeln und dann dieser Typ! War das nicht unglaublich? Noch vor wenigen Tagen und Momenten war für mich fast alles relativ und mehr oder weniger nebensächlich, sogar meine Existenz. Nichts berührte sie sonderlich oder forderte sie heraus – und nun plötzlich dieses
Erdbeben, dieser Vulkanausbruch, dieser Windstoß! In heller Aufregung und Verärgerung zitterte sie am ganzen Leib. Was sollte sie machen? Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, doch dieser schien ihr jetzt zu hart und irgendwie war er auf einmal nicht mehr so gemütlich wie vorhin. Sie spürte lauter Ameisen durch ihren Körper laufen, so dass das Stillsitzen nicht mehr so richtig klappte. Sie stand auf und tastete sich noch einmal vorsichtig ans Fenster.
Der Junge war nicht mehr da.
Ihr Puls wurde nun langsamer und endlich konnte sie wieder durchatmen. Sie kühlte ihre Wangen im Badezimmer mit kaltem Wasser ab und sah sich im Wandspiegel ihr eigenes Gesicht genauer an. Fast hätte sie sich nicht wieder erkannt. Waren das ihre glänzenden, blauen Augen, die sie jetzt so lebhaft anfunkelten? Hatte sie schon immer diese Grübchen in den Mundwinkeln? Und ihre Wangenknochen haben sich noch nie so bemerkbar gemacht, jedenfalls sind sie ihr bis jetzt nicht sonderlich aufgefallen. Sie nahm die Haarbürste in die Hand und kämmte langsam ihr schulterlanges Haar durch. Sie trug sehr selten ihre Haare offen, weil sie ihr immer ins Gesicht flogen. Doch nun sah sie, dass sie mit offenen Haaren sehr schön aussah – auf irgendeine Weise reifer. Außerdem schmückten diese ihr zierliches Gesicht, machten es noch sanfter und weiblicher.
Sie suchte sofort aber nach ihrer Spange und konnte nicht glauben, wie blöd sie doch war! Wieso hielt sie sich mit so unwichtigen Dingen wie den Haaren auf? Schnell und verärgert band sie sich diese zu einem Zopf zusammen und ging wieder in ihr Zimmer zurück. Von der Tür aus sah sie wie die Sonne in ihren letzten Zügen unterging. Doch irgendwie löste das bei ihr nicht wie gewöhnlich Melancholie oder Traurigkeit aus. Vielmehr verspürte sie zum ersten Mal die Kraft der Sonne; wie sie die Blätter des Baumes, der hinter dem Zaun gegenüberstand, mit ihren Strahlen zum Leuchten brachte und wie ihr Licht noch zu so einer späten Stunde einhüllende Wärme schenkte. Auch wenn die Sonne unterging, es machte ihr seltsamerweise nicht viel aus. Denn nun leuchtete etwas tief in ihr und das würde bestimmt nicht so schnell untergehen.
Sie ging bedächtig zur Fensterbank hinüber und nahm noch einmal aufgeregt die Papierschwalbe in die Hand. „Was ist bloß mit mir los?“. Und mit dieser Frage überkam sie ganz plötzlich Lust ganz laut „Somewhereovertherainbow“ zu singen.
Hastig packte sie ihr selbstgemachtes, in Pergamentpapier eingepacktes Butterbrot in ihre Stofftasche ein. Sie mochte gar nicht darüber nachdenken, was sonst noch alles da drin lag. Ganz kurz lief ihr nur das teure Deutschbuch durch den Kopf und die grauenhafte Vorstellung, dass vielleicht in der Sommerhitze die Butter aus dem Butterbrot auslaufen und alles verschmieren könnte. Sie hatte einfach keine Zeit mehr, jetzt noch nach einem Plastikbeutel zu suchen. Mit einem Schluck trank sie ihren Pfefferminztee aus, griff noch in der Türschwelle nach dem Hausschlüssel, knallte die Tür hinter sich zu – was ihre Mutter bestimmt aufweckte – und lief so schnell sie konnte Richtung Bushaltestelle. Hoffentlich kommt sie jetzt nicht zu spät! Auf dem halben Weg fiel ihr auf einmal ein, dass sie tatsächlich etwas Wichtiges vergessen hatte: Natürlich die Monatskarte für den Bus. Sie schaute auf die Uhr, doch es war schon zu spät, um umzukehren. Sie durfte die Frühstunde nicht verpassen, denn heute war sie mit dem Referat in Geschichte dran. Der Lehrer war ziemlich pingelig und achtete sehr auf Pünktlichkeit. Sie mochte ihn trotzdem irgendwie gut leiden, weil bei ihm der Unterricht einfach sensationell war. Die sonst so langweiligen Ereignisse von damals wurden jedes Mal zum wahren Erlebnis. Herr Lackmann, der Geschichtslehrer, konnte so unglaublich bildhaft erzählen, dass man glaubte, sich mittendrin in den Geschehnissen zu befinden und die Situationen der Menschen in den letzten Jahrhunderten sowie ihre Schicksale richtig nachempfinden zu können. Sie besprachen momentan das 18. Jahrhundert und sie war heute mit dem Thema „Französische Aristokratie zur Zeit der Revolution“ dran. Auch heute hat sie den Wecker nicht gehört und alles ging so schnell, dass sie fast ihren Kopf zu Hause vergessen hätte. Aber wenigstens kam sie jetzt rechtzeitig zum Bus. Im hinteren Bereich war noch ein Platz frei. Sie setzte sich erleichtert, aber außer Puste hin und atmete erst einmal tief und schwer durch. Sie hörte ihr Herz im Takt des Techno-Liedes schlagen, das aus den Kopfhörern des Mädchens vor ihr erklang. Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen und versuchte sich zu fassen. Seit dem letzten Vorfall am Fenster, der Papierschwalbe, dem unbekannten Jungen war sie zerstreut wie noch nie. Die dumpfen Geräusche des Busmotors und das wippende Gefühl auf dem Sitz ließen sie etwas zur Ruhe kommen.
Doch war die Ruhe nicht von langer Dauer, denn wie aus dem Nichts stupste sie auf einmal ein spitzer Finger drei Mal nacheinander an. Sie öffnete ihre Augen und sofort schoss ihr das Blut wieder in die Adern: „Fahrkartenkontrolle. Bitte zeigen sie ihren Fahrausweis vor“, lauteten die klaren, tief klingenden Worte des etwas stämmigen Schaffners. „Wieso passieren immer nur mir lauter so dummer Sachen und womit hab ich das hier verdient?!“ Sie schrie innerlich vor Verzweiflung. Die Leute um sie herum drehten sich auch genau in dem Augenblick zu ihr um, als wenn sie den Verzweiflungsschrei gehört hätten und schauten sie erwartungsvoll an. Der Schaffner wiederholte abermals seine Worte, während sie sich heimlich unter ihrer Tasche in den Arm zwickte, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte. Und wenn sie träumte, so wollte sie endlich aus diesem Alptraum erwachen. „Hat es ihnen die Sprache verschlagen, junges Fräulein, oder fahren sie heute schwarz?“, betonte nochmals die etwas angehobene Stimme. Sollte sie jetzt anfangen, sich zu entschuldigen? Sollte sie ihm jetzt erklären, wieso, weshalb und warum? Ihre Kehle schnürte sich zu. Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Weglaufen war jetzt unmöglich! Sie stotterte nur ein klägliches „Ich, … ich …“ hervor und sah lauter hässlicher Glubschaugen der Mitreisenden auf sich kleben. Nur noch ein Wunder könnte sie jetzt von ihren Qualen erlösen.
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