Weil er als zuverlässig galt, ernannte man Coltrane zum Schülerlotsen, was allgemein als Auszeichnung empfunden wurde. Die Nachmittage mit seinen Freunden waren von normalen, jungentypischen Vorlieben geprägt: Man diskutierte über Football- und Baseball-Spiele, interessierte sich für die neuesten Automodelle und für solche existentiellen Fragen wie: »Welches ist am stromlinienförmigsten?« Dabei stimmte der junge Coltrane nie in die beliebte Heldenverehrung irgendwelcher Sportstars ein. Ihm hatten es dafür Filme und Comic-Hefte angetan, besonders die Doc-Savage-Abenteuer – eine Art Vorläufer von Indiana Jones. Laut Franklin Brower versuchten er und John sogar selbst, Comic-Stories im Stile von Doc Savage zu zeichnen, wobei John für die Bilder und Franklin für die Geschichte zuständig war.
Doch schon bald war es mit Johns unbeschwerter Kindheit vorbei: In seinem siebten Schuljahr wurde die Coltrane-Familie von einer Reihe schwerer Schicksalsschläge heimgesucht: Am 11. Dezember 1938 verstarb der geliebte Großvater Reverend William W. Blair. Knapp einen Monat später, am 2. Januar 1939, folgte die nächste Katastrophe: John Robert Coltrane, Johns Vater, starb an einem zu spät erkannten Magenkrebs. Und am 26. April desselben Jahres wurde Johns Großmutter mütterlicherseits ebenfalls vom Krebs dahingerafft. In diese dramatische Zeit der Verluste fiel Johns radikale Hinwendung zur Musik: Er übte von Anfang an wie besessen, zuerst auf einem Althorn, dann auf der Klarinette. Nach Einschätzung des Coltrane-Biographen Lewis Porter »wurde die Musik in gewisser Weise zu einem Vaterersatz. Durch Musik konnte er seinem Schmerz Ausdruck verleihen und ihn zugleich lindern, einen Schmerz, den er sich nie vollständig eingestanden hat.« Und Johns Schulfreund David Young ergänzt: »Für eine Weile, so schien es, hatte er nichts als sein Horn.«
Musik avancierte für John Coltrane zum wichtigsten Überlebensmittel. Zuvor hatte sich sein Interesse an allgegenwärtigen Radiohits wie Ella Fitzgeralds »A-Tisket and A-Tasket« oder Jimmy Luncefords »Margie« in Grenzen gehalten. Der Historiker und Jazzexperte Eric Hobsbawm fand später in seinen sozialgeschichtlichen Studien heraus, dass es 1929 – zu Beginn der Großen Depression – etwa 60 000 Jazzbands in den USA und etwa 200 000 professionelle Musiker gab. Am 29. Oktober 1929, am sogenannten Schwarzen Freitag, brach der Stock Market in den USA zusammen und sieben Millionen Menschen wurden auf einen Schlag arbeitslos. Die Löhne sanken um 39 Prozent und die Plattenverkäufe sogar um 94 Prozent. Doch in den dreißiger Jahren, als sich die US-Wirtschaft erholte, explodierte der Plattenmarkt: Die Verkäufe stiegen von 10 Millionen im Jahr 1931 auf 260 Millionen im Jahr 1941.
Während seiner Highschool-Jahre schwärmten John und Franklin unter anderem für Glenn Millers »Chattanooga Choo Choo«, für Harry James’ Hit »Flight of the Bumblebee«, Cab Calloways »Minnie the Moocher« und die Stücke von Artie Shaw und Tom Dorsey. Sie besuchten kleinere Tanzveranstaltungen, die keinen Eintritt kosteten; die großen Konzerte von Jimmy Luncefords Bigband, die auch regelmäßig in High Point gastierte, waren ihnen zu teuer. Auf der Highschool fand Coltrane auch seine erste Freundin. Das Mädchen, in das er verknallt war, hieß Doreatha Nelson. Lange traute er sich nicht, die Angebetete anzusprechen, und schob zunächst seinen Freund vor. Als er dann doch mit ihr »ging«, ließ die erhoffte heiße Romanze leider auf sich warten: Man unternahm Spaziergänge oder besuchte gemeinsam allenfalls mal ein Kino. Doreatha war im Gegensatz zu John eine sehr gute Schülerin. Sein Ehrgeiz erlahmte zunehmend, als er erst einmal vom Musik-Virus infiziert war.
Nach dem Tod von Coltranes Vater wirkte sein Onkel Goler Lyerly als Hausvorstand. Doch auch er starb im Oktober 1940 plötzlich an einem Herzanfall. Von der glücklichen Coltrane-Großfamilie waren nur noch John, seine Kusine Mary und die beiden Mütter übriggeblieben: Der einstige Mittelklasse-Haushalt verarmte zusehends. Mutter Alice und ihre Schwester Bettie arbeiteten als Bedienstete in einem Country Club, während John sich dort als Schuhputzer ein bisschen Geld verdiente. Doch an allen Ecken und Enden reichte es nicht: Die Schlafzimmer im ersten Stock des Hauses mussten vermietet werden. Bis auf Johns Mutter, die an chronischer Arthritis litt, schliefen alle im Wohnzimmer im Erdgeschoss. Nach den Erinnerungen seiner Kusine Mary kämpfte John zu dieser Zeit mit chronischen Atemwegsproblemen und wachte mehrmals in der Nacht auf, um nach Luft zu schnappen. Seine einzige Freude bestand in dieser tristen Zeit darin, seinen jüngsten Onkel John Blair in Hamlet zu besuchen, der bei der Seaboard Railroad angestellt war. Coltrane war von der Eisenbahn fasziniert.
Im Sommer 1942 kam er zum ersten Mal nach Philadelphia, wo er eine Tante väterlicherseits besuchte. Gegen Ende jenes Jahres entschloss sich seine Mutter, nach Philadelphia überzusiedeln, weil sie hoffte, dort leichter Arbeit zu finden. Doch die meiste Zeit verbrachte sie dann in Atlantic City, New Jersey, wo sie eine kranke, ältere Schwester betreuen konnte und bald auch zu einem Job kam. Als auch Mary und ihre Mutter Bettie Goler im Februar 1943 zu Verwandten nach Newark zogen, blieb John allein in High Point zurück, um dort zumindest seine Highschool abzuschließen. Mit Hilfe seiner Freunde Franklin Brower und James Kinzer und der materiellen Unterstützung durch die Nachbarfamilie Thomas Fair kam er ganz gut über die Runden. Wenn er nicht gerade stundenlang auf einem geliehenen Altsaxophon übte, versuchte er noch immer zusammen mit Brower, ein eigenes »big little book« voller Comics zu erstellen.
Während seines letzten Highschool-Jahres, nach dem Tod seiner Großmutter und dem Wegzug seiner Mutter nach Philadelphia, genoss John viele Freiheiten. Auf den obligatorischen Friday-Night-Parties trank er gern mal mit Freunden wie Red Martin oder Carl Chavis einen Whiskey über den Durst. Auch begann er jetzt, Zigaretten zu rauchen – eine Angewohnheit, die er sein Leben lang beibehalten sollte. In dieser Zeit, in der er weitgehend auf sich allein gestellt war, dürfte Coltrane auch erste sexuelle Erfahrungen gemacht haben: Die Frau eines ständig von zu Hause abwesenden Versicherungsagenten war wegen ihrer Vorliebe für ältere Schüler stadtbekannt.
John mied Auseinandersetzungen und hielt sich von Streitereien in der Schule fern. Selbst wenn er spätabends zusammen mit Franklin Brower durch die örtlichen Spielhallen zog, um sich im Pool-Billard zu versuchen, ließ er sich nie in irgendwelche Schlägereien verwickeln. Er war nicht jemand, der versuchte, sich auf Teufel komm raus durchzusetzen. Allein in musikalischen Fragen machte er keinerlei Zugeständnisse. Sein wachsendes Musik-Interesse zeigte sich während des letzten Highschool-Jahres nicht zuletzt darin, dass er sich regelmäßig das Down Beat -Magazin – das Sprachrohr der Jazzszene – kaufte und begierig darin die Kleinanzeigen für Musikinstrumente studierte.
Seinen ersten Instrumental-Unterricht erhielt John im Alter von zwölf Jahren auf dem Althorn, einer kleinen Ausgabe der Tuba – auch Charlie Parker hatte damit begonnen. In der Community-Band der Kirche seines Großvaters Blair, die vor allem Märsche und Spirituals im Repertoire hatte, lernte Coltrane ab Herbst 1939 erste Finessen des Ensemblespiels. Bald wechselte er zur B-Klarinette, die er sich im örtlichen Nash Jewelry Store ausgeliehen hatte. Eines seiner ersten Stücke war »A Dream of Two Blue Orchids« im Arrangement des Klarinettisten Artie Shaw. 1939 wurde es in der Version von Glenn Miller sogar ein landesweiter Hit. Zwar spielte John seine Klarinette auch in der William Penn High School Band unter der Leitung von Warren B. Steel, einem seiner Pfadfinder-Führer, doch ab Herbst 1949 begann er sich mehr und mehr für das Saxophonspiel zu interessieren: »Ich wählte das Saxophon, weil Lester Young es spielte.«
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