Dabei hat es, besonders in den letzten Jahren, an Passbildern dieses Mosaiks nicht gefehlt, ganz im Gegenteil: Nur wenige Städte haben das Auftauchen einer solch großen Anzahl von Schriftstellern innerhalb eines relativ engen Zeitrahmens erlebt, was manche Kritiker dazu verleitet hat, von einer regelrechten palermitanischen Schule zu sprechen, und das besonders im Genre Krimi und Noir. Nebenbei bemerkt, teile ich dieses Urteil nicht, denn die palermitanischen Schriftsteller bilden zum Glück für ihre Leser einen Archipel, dessen Inseln untereinander frei von Verbindungen sind. Wenn es sich um eine Schule handelt, dann um eine der Differenzen.
Dass dies quasi State of the Art in der Beziehung eines angehenden palermitanischen Schriftstellers und seiner Stadt ist, habe ich bereits beim Schreiben meines ersten Romans Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia gemerkt, und zwar ganz instinktiv, so meine ich. Und ebenso instinktiv hat sich auch mein Schreiben angepasst, weg von jedem analytischen Ansatz, bis auf marginale Momente, hin zum Erzählen.
Entscheidend dafür war möglicherweise auch das Krimi-Genre, das sich für die Annäherung an heutige Städte wohl am besten eignet. Denn hinter den polizeilichen Ermittlungen verbirgt sich oft die Erforschung gesellschaftlicher Subjekte. Der Roman, zusammen mit seinem Nachfolger Das Doppelleben von M. Laurent , entstanden wie durch ein »Auskeimen« aus dem vorigen, offeriert eine Sicht auf Palermo, die als anormal definiert wurde.
Mehr als von Anomalie wäre es vielleicht korrekter, im wortwörtlichen, das heißt im geometrischen Sinne, von Ex-Zentrizität zu sprechen, da ich mich mit beiden Romanen von dem thematischen Mittelpunkt Mafia wegbewegt habe. Mein Hauptanliegen beim Schreiben war es, die Mafia als eine Palermo-immanente Realität darzustellen, die derart empirisch erfahrbar ist, dass anders als in Andeutungen über sie zu sprechen zum verzichtbaren Beiwerk wird. Es handelt sich bei diesen beiden Krimis also eigentlich nicht um Storys ohne Mafia, sondern um solche ohne die Mafia als Hauptakteur. Aber deswegen ist ihre Wirkkraft nicht weniger dramatisch, und das trotz der bissigen Ironie, von der sie durchdrungen sind. Jean-Claude Izzo, der vor einigen Jahren verstorbene Schriftsteller aus Marseille, hat sie gar unter die Noirs aus dem Mittelmeerraum eingereiht, deren »Stammbaum bis zur griechischen Tragödie zurückreicht«.
Mit dem vorliegenden Roman Blaue Blumen zu Allerseelen , der jetzt dank der Hartnäckigkeit meiner Übersetzerin Monika Lustig glücklich in deutschen Landen gelandet ist, *ändert sich alles. Anstelle des Protagonisten der ersten beiden Bücher, des Ich-Erzählers Lorenzo La Marca, Flaneur, Universitätsdozent, unfreiwillig in die Rolle des Detektivs geraten, tritt nun dessen Freund Vittorio Spotorno, seines Zeichens Kommissar, auf den Plan, dessen Trauzeuge er einst gewesen war. Und der ist von Berufs wegen befugt, sich mit Mafiadelikten zu befassen; überdies wird in der dritten Person erzählt, was der Handlung mehr Objektivität verleiht.
Der vorliegende Roman verhält sich in mancher Hinsicht spiegelbildlich zu den Verbrechen in der Via Medina-Sidonia . So spielt er zum Teil in derselben Zeit, und einige, in beiden Romanen vorkommende Episoden werden im ersten Buch aus La Marcas Sicht und hier aus der Perspektive Spotornos erzählt: In einem Kapitel der Verbrechen erfährt man von einem Mafia-Doppelmord, der nun zum Gegenstand der Ermittlungen in Blaue Blumen geworden ist. Immer schon hat mich die Möglichkeit fasziniert (und mir einen Heidenspaß bereitet!), nichtparallele literarische Universen zu schaffen, die interagieren, sich ausdehnen und Wegen folgen, die sich am Ende überschneiden, wie es häufig auch in der Realität der Fall ist, ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind.
Das Palermo aus diesem dritten Roman hat augenscheinlich nur wenige Berührungspunkte mit der emanzipierten, höchstlebendigen Metropole der ersten beiden, ja, an manchen Stellen wirkt es geradezu antithetisch, unkommunikativ und manchmal wie von einem düsteren Schleier umhüllt.
In Wahrheit existieren diese beiden Städte, zusammen mit vielen anderen, Seite an Seite und vor den Augen all derer, die Lust haben, sie zu sehen. Was sich zwischen den ersten beiden Romanen und dem dritten verändert, ist der Blickwinkel des Betrachters. Denn La Marca und Spotorno können aufgrund der Unterschiede bei Beruf, bürgerlichem Stand und sozialer Kontakte nicht ein und dieselbe Sichtweise teilen. Und so wie die Stadt unseren Blick beeinflusst, so ist sie ihrerseits davon gefärbt. Genau wie die Literatur.
Santo Piazzese, im April 2018
*Leonardo Sciascia sprach als Erster von Palermo, das ihm auf immer verloren erschien, lehnte sich dazu an Tomasi di Lampedusa an, der ganz Sizilien auf diese Weise sah.
*Der Übersetzerin ist es eine Ehre, schließlich verdankt sich die Gründung ihrer Edition CONVERSO zu einem Teil diesem »Landemanöver«.
Abschweifungen über einen Teerfleck (samt Verbrechen)
Wenn du einmal mit nackten Füßen in einen Teerklumpen getreten bist, gibt es nichts Besseres als Olivenöl. Du reibst mit einem Stückchen ölgetränkter màttola über die Stelle und kannst zusehen, wie das Schwarze verschwindet. Bei dem Wort màttola hätte sein Vater ihn mit schiefem Blick gerügt: Entweder du sprichst Italienisch oder Dialekt, eins von beiden! Also war folgender Kompromiss entstanden: Auf dem kurzen Weg vom Gehirn zur Zunge hatte sich die màttola bereits in einen einwandfreien weißen Wattebausch verwandelt. Zeitlebens sollte ihm eine gewisse schambesetzte Scheu bleiben, reinen Dialekt zu sprechen … nackt und schutzlos wäre er sich dabei vorgekommen. Dieses Bewusstsein erreichte ihn jedoch erst später, sehr viel später.
Einbeinig, um Gleichgewicht ringend, stand der Junge auf dem Felsen und begutachtete die betroffene Fußsohle. Der Teerfleck war groß, dick und klebrig. Nicht daran zu denken, in die nagelneuen weißen Stoffschuhe zu schlüpfen, um nach Hause zu eilen und alles wieder in Ordnung zu bringen. Er warf einen Blick hinter sich in Richtung Straße. Auf der schmalen Schneise zwischen den Felsen und dem Erdwall, auf dem die Bahngleise verliefen, lagen überall Glasscherben, somit war auch an Barfußgehen nicht zu denken.
Am Abend zuvor hatten die Jäger aus Frust ob der ausbleibenden Lerchen, ihre eigentliche Jagdbeute, wie wild auf leere Glasflaschen geballert. Die großen Vogelschwärme der vergangenen Jahre existierten nur noch als Erinnerung. Zogen dennoch welche vorüber, dann immer weiter draußen über dem Meer, und um sie von der Küste aus zu erreichen, hätte es Motorboote gebraucht. Hier aber gab es nur Ruderboote, und nie hatte er verstanden, weshalb die mit so vielen Jägern an Bord nicht untergingen oder zumindest kenterten. Ab dem Nachmittag bis zum Sonnenuntergang war der Golf zwischen Sant’Erasmo und Acqua dei Corsari voller Ruderboote.
Zu Beginn der Lerchenjagd vor einigen Wochen hatte sich ein halbes Drama abgespielt und tagelang für Gesprächsstoff gesorgt.
Das neue Boot von Don Angelino – den alle Donnancilino nannten, als wäre es ein einziges Wort – war bei der ersten Ausfahrt schnurstracks auf eine Teerpfütze aufgelaufen. Bis dahin nichts Ungewöhnliches. Das Ereignis aber hatte bei den anderen Bootsbesitzern kaum verhohlene Heiterkeit ausgelöst, denn Don Angelino hatte sein Boot von einem gestandenen Maler für Prachtkarren *verschönern lassen, der sich der Sache mit größtem Eifer gewidmet hatte – schließlich war das sein erster Auftrag dieser Art. Anders gesagt, ihm war noch nie zu Ohren gekommen, dass man Boote nach Art der Prachtkarren bemalen lässt. Er hatte das ganze Boot verziert, vom Rumpf bis zum Kiel, als müssten sie es immerzu auf der Malstaffelei, im Nirwana der Boote halten, ohne es je im echten Meer zu Wasser zu lassen.
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