Wer der Linken das Totenglöckchen läutet, hat die Signale von Seattle bis Genua nicht verstanden. Auf den Verlust politischer Gestaltungsmöglichkeiten im nationalen Rahmen antwortet die Linke mit Vorschlägen zur politischen Steuerung auf übernationaler Ebene. Die Massenarbeitslosigkeit kann mit einer nationalstaatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik allein nicht mehr erfolgreich bekämpft werden. Der notwendige soziale und ökologische Umbau setzt internationale Reformen voraus. Die Vorschläge der Globalisierungskritiker liegen auf dem Tisch.Zur Realität können sie aber nur werden, wenn Europa zu einer gemeinsamen Politik findet, und wenn die einzige Führungsmacht der Welt, die Vereinigten Staaten, bereit ist, ihren Unilateralismus und ihren Anspruch auf Weltherrschaft aufzugeben. Die kritische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Politik nach den Terroranschlägen in New York und Washington ist notwendig, um Konzepte und Handlungsoptionen für eine gerechtere Welt auszuloten.
In den Anschlägen vom 11.September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington sah ich anfangs ein Ereignis, das die Welt verändern würde. Nichts wird wieder so sein, wie es einmal war, lautete das allgemeine Urteil und ich stimmte dieser Einschätzung zu. Vielleicht kam darin auch die Angst vor weiteren Terroranschlägen zum Ausdruck. Sie konnten jeden treffen. Als die ersten Anthraxbakterien in der amerikanischen Post entdeckt wurden, öffnete ich meine Briefe etwas vorsichtiger. Man kann ja nie wissen. Aber im Lauf der Zeit kamen mir Zweifel, ob die Ereignisse in Amerika wirklich einen welthistorischen Einschnitt bedeuteten. Hatte sich tatsächlich etwas Neues ereignet, und was war das Besondere an den Terroranschlägen? Zum ersten Mal war die ganze Welt durch das Fernsehen Zeuge eines Massenmordes, der die Vereinigten Staaten bis ins Mark erschütterte. Aber auch in den Jahren davor gab es viele Kriege, in denen Millionen ihr Leben ließen. Täglich verhungern 30 000 Menschen, ohne dass die Welt etwas daran ändert. Für die Beurteilung der weltpolitischen Lage war die Reaktion der Vereinigten Staaten und der übrigen Länder auf die Anschläge wichtiger als das Ereignis selbst. In beeindruckender Weise wurde deutlich, welche Vormachtstellung die USA heute in der Welt haben. Diese historisch einmalige Machtfülle ist zum Problem für die Weltinnenpolitik geworden, weil die mächtigste Militär- und Wirtschaftsmacht der Welt auf das Recht des Stärkeren pocht. In vielfältiger Form sabotiert sie Vereinbarungen, die zu einer internationalen Rechtsordnung gehören.
Die viel beschworene Globalisierung ruft aber geradezu nach Regeln, an die sich alle halten müssen. Von dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau stammt der Gedanke: »Entre le faible et le fort c’est la liberté, qui opprime, et c’est la loi, qui libère«, zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. Das ist, auf den Punkt gebracht, der Gegensatz zwischen neoliberalem Marktfundamentalismus und sozialdemokratischer Politik. Eine gerechtere Welt kann nicht allein auf den Interessen der Stärkeren aufgebaut werden.Vielmehr muss eine internationale Rechtsordnung, die eine neue Weltwirtschaftsordnung einschließt, die Schwachen vor den Starken schützen.
Die Mächtigen selbst sind sich oft über ihre Motive nicht im Klaren. Das gilt vor allem für »gods own country«. Die Politikerin und Kolumnistin Eleanor Roosevelt, Ehefrau des Präsidenten Franklin D. Roosevelt, meinte dazu: »Das ist … ein Wesenszug, den keine andere Nation in gleichem Maß aufweist wie wir – nämlich das Gefühl der Schmach und der fast kindischen Verletztheit, weil die übrige Welt nicht erkennt, dass wir nur die großzügigsten und besten Vorsätze hegen.« Unter dem Schock der Terroranschläge hieß es in Deutschland: Wir sind alle Amerikaner. Trauergottesdienste wurden mediengerecht veranstaltet. Aber es blieb ein fader Beigeschmack. Viele Menschen werden in der Welt Opfer von Gewalt und Terror, ohne dass bei uns getrauert wird. Ein Israeli kommentierte kurze Zeit später die Betroffenheit der US-Bürger nach den Ereignissen in New York und Washington wie folgt: »Jetzt erlebt ihr einmal, was bei uns Alltag ist.« Das Bekenntnis,»wir sind alle Amerikaner«, veranlasste mich nach der Bombardierung Kabuls im Freundeskreis zu sagen: »Wir sind alle Afghanen.« Die Reaktion war Heiterkeit, weil einige an die Hunderasse dachten. Nach Lachen war mir aber nicht zumute. Wenn ich nicht schlafen konnte, stellte ich mir vor, unter welchen Bedingungen afghanische Familien die Nacht verbrachten. Und ich malte mir aus, dass bald wieder von »Kollateralschäden« die Rede sein würde, weil unschuldige Menschen im Bombenhagel ums Leben gekommen waren. Wenn man weit weg und nicht betroffen ist, kann man mit den Schultern zucken und realpolitische Weisheiten von sich geben wie:Wo gehobelt wird, fallen Späne. Aber der Afghane, dessen Familie durch die amerikanischen Bomben umgebracht wurde – ich komme später darauf zurück – erlebt das anders. Es empörte mich auch zu sehen, wie der amerikanische Militärminister Donald Rumsfeld mit geschwellter Brust und dem zynischen Lachen des Siegers von den Erfolgen der amerikanischen Bomberflotte berichtete. Das waren tapfere Helden, die aus mehreren tausend Meter Höhe Bauernjungs, die nur mit Kalaschnikows bewaffnet waren, bombardierten, um sie aus ihren Schutzgräben und Verstecken zu verjagen. Rumsfeld erinnerte mich an den Nato-Sprecher Jamie Shea, der im Kosovokrieg auch dann charmant lächelte, wenn er vom Leid und Elend der Bombenopfer erzählte.
Viele in Deutschland scheuen vor einer schonungslosen Analyse der Vormachtstellung Amerikas und ihrer Folgen für die Welt zurück. Wer sucht nicht gerne Schutz bei dem Stärkeren? Aber es gibt noch eine andere Veranlagung in uns Menschen, die Gott sei Dank noch nicht abgestorben ist. Wir wollen den Schwächeren helfen.Und in der Welt gibt es mehr Schwache als Starke.Die Amerikanische Verfassung von 1776 gilt für die ganze Menschheit:»Wir halten es für selbstverständliche Wahrheiten, dass alle Menschen gleich geschaffen wurden, dass sie alle von ihrem Schöpfer mit gewissen unabdingbaren Rechten ausgestattet wurden und dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.«
Die militärisch gestützte Außenpolitik der einzig verbliebenen Supermacht dient dazu, die Profitinteressen der Finanzindustrie durchzusetzen, die Marktmacht der internationalen Konzerne auszuweiten und den reichen Nationen die Rohstoffe der armen Länder zu sichern. Schon 1991 hatte der Hardliner des Pentagons, Paul Wolfowitz, gefordert, die USA sollten jeden Industriestaat daran hindern, die Vormachtstellung Amerikas herauszufordern oder auch nur eine größere regionale oder globale Rolle zu spielen. Das ist das ungeschminkte Verlangen nach der Weltherrschaft. Jeder Versuch, die Hegemonie der USA irgendwo auf dem Erdball infrage zu stellen, soll unterdrückt werden.
Wie soll sich Deutschland in dieser Situation verhalten und welche Außenpolitik soll es angehen? Von der rot-grünen Koalition durfte man eine Fortsetzung der Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts erwarten. Brandt setzte auf die nichtmilitärische Lösung von Konflikten und warb für internationale Abrüstung und Beschränkung der Waffenexporte. Der Friedensnobelpreisträger trat dafür ein, die Entwicklungshilfe für die armen Länder deutlich zu erhöhen. In den Programmdiskussionen der Sozialdemokratischen Partei befürwortete er die Stärkung der UNO und die Beachtung des internationalen Rechts. Seine Politik gründete auf den Ideen des Gewaltverzichts und der gemeinsamen Sicherheit.
Der außenpolitische Sündenfall der Regierung Schröder war der Kosovokrieg, bei dem auch die Nato auf das Recht des Stärkeren setzte. Es war ein großer historischer Fehler, die USA darin zu bestärken, das internationale Recht zu missachten.Und es war ein ebenso großes Versäumnis, die militärische Vorgehensweise der Supermacht nicht zu thematisieren. Meine in der letzten Kabinettssitzung, an der ich im März 1999 teilgenommen habe, wiederholt gestellte Frage »Kann mir jemand sagen, was in Jugoslawien militärisch unternommen werden soll?« wurde weder von Außenminister Fischer noch von Militärminister Scharping beantwortet. Wenn die US-Strategie – möglichst »keine eigenen Toten« – zum Sterben unschuldiger Zivilisten führt, dann darf sich Deutschland an dieser Art der Kriegführung nicht beteiligen. Der jugoslawische Staatspräsident Vojislav Kostunica klagte, die »humanen Bomben« der Nato hätten 1500 Zivilisten getötet, darunter 81 Kinder. Richtig wäre die Einrichtung von Schutzzonen gewesen, um das Leben der Zivilbevölkerung zu verteidigen. Obwohl viele gerade von der Regierung Schröder etwas anderes erhofften, stiegen die deutschen Waffenexporte. In Afghanistan versprach die Bundesregierung uneingeschränkte Solidarität auch dann noch, als die Fehler der Amerikaner und der UNO nicht mehr zu übersehen waren.Wenn die USA auf Terroranschläge mit Flächenbombardements und Streubomben antworten können, dann dürfen das die Inder auch in Pakistan, die Russen in Tschetschenien, die Israelis in Palästina und die Mazedonier gegen die UCK. So setzt man die Welt in Brand. Zweifellos steht es jedem Staat zu, sich gegen Terrorismus zu verteidigen.Dabei muss er sich aber bei der Wahl der Ziele und der Mittel an moralische und rechtliche Regeln halten. Die Schuldigen müssen einwandfrei festgestellt werden. Strafrechtliche Verantwortung ist immer eine personelle Angelegenheit. Sie kann nicht auf Nationen, Ethnien und Religionen, denen die Terroristen zufällig angehören, übertragen werden. Bei der Kriegführung und der Gefangenenbehandlung müssen alle Staaten, auch die USA, die Genfer Konventionen und das internationale Völkerrecht beachten.
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