Etwas von Briefkästen, Befehlen, einer Gemeinschaft, einer Mission. Aber die entscheidende Frage hatte er nicht beantwortet. Mittlerweile glaubte er dem Jungen. Aber wenn er ihn nicht verstand, half ihm das nichts. Und dem Jungen auch nicht. Er konnte den Worten seines Opfers zwar folgen, aber nichts damit anfangen. Er würde Verstärkung benötigen. Einen Spezialisten, einen, der mehr von dem Thema verstand. Erst danach würden sie wissen, woran sie waren. Und ob Sie den Jungen noch weiter brauchen würden.
Er stopfte seinem Gefangenen den Knebel wieder in den Mund und fixierte ihn wieder mit der Krawatte. Dann fummelte er sein Mobiltelefon aus seiner Jackentasche, wählte eine Nummer, hielt sich das Gerät an das Ohr und wartete.
„Ich brauche Deine Hilfe“, sagte er schließlich. „So schnell wie möglich. Ja, in der Werkstatt. In Köln. Erst übermorgen? Morgen wäre mir lieber. Versuch, ob es nicht früher geht. Bis dann. Danke.“
Das Aufwachen war kein Problem. Das Aufstehen schon. Strecker hatte schlecht, nach seinem Gefühl sogar so gut wie gar nicht, geschlafen. Lag das an der unvertrauten Umgebung oder hatte ihm schlichtweg sein Schlaftrunk gefehlt? Mit noch geschlossenen Augen tastete er auf dem Nachtschränkchen herum, suchte nach seinem Mobiltelefon und öffnete die Augen erst, als er es in den Fingern hatte und das Display schon über seinem Gesicht schwebte.
Fast 7:00 Uhr. Dafür, dass er gemeint hatte, die ganze Nacht wach zu liegen, hatte er es erstaunlich lange ausgehalten. Nun war Eile geboten. Also schlug er die Decke beiseite, schwang zuerst die Beine und dann den restlichen Körper aus dem Bett. Er eilte in das Bad, setzte sich auf das Klo, entleerte seine Blase und machte sich, nachdem er die Spülung betätigt hatte, daran, sein Gesicht gesellschaftsfähig zu machen. Zum Duschen blieb ihm keine Zeit, also musste er sich damit begnügen, sich mit einem Waschlappen den Hals, die Brust und unter den Achselhöhlen zu waschen. Das hat ja früher auch gereicht, bevor tägliches Duschen zum Gewohnheitsbzw. sogar Pflichtprogramm ernannt wurde. Noch etwas Deo unter die Achseln gesprüht. Fertig! Anschließend fuhr er sich noch mit dem Elektrorasierer durch das Gesicht und schon war seine Erscheinung für die Öffentlichkeit freigegeben. Kurz zögerte er, neue Unterwäsche und Socken anzuziehen. Die ausgefallene Dusche lieferte eigentlich ein gutes Argument für einen Verzicht, aber gestern war schon ein guter Vorsatz über Bord gegangen. „Apage satanas“, dachte er sich, kramte die Sachen aus dem Schrank hervor und zog sie an. Auch ein frisches Hemd gönnte er sich, kontrollierte, soweit ihm möglich, beim Anziehen nochmals schnüffelnd seinen Achselgeruch und streifte schließlich das Hemd zufrieden über seine Schultern. Eine frische Hose wäre zu viel des Guten gewesen und auch das Jackett vom Vortag hatte sich über Nacht ausreichend glatt gehangen. Ohne Frühstück, aber samt Mantel und Handy, die er noch vom Haken bzw. Schreibtisch nahm, verließ er seine Dienstwohnung und fuhr zügig Richtung BKA. Für ein Frühstück hatte er keine Zeit mehr. Noch nicht einmal, um unterwegs irgendwo anzuhalten und etwas zum Mitnehmen einzukaufen. Da konnte er nur auf die Kantine des BKA bauen. Immerhin schaffte er es so, vor 8:00 Uhr in seinem neuen Büro zu sitzen. Pünktlich. Noch ein guter Vorsatz, der noch am Leben war.
Um 8:00 Uhr klopfte es an der Bürotür und unmittelbar nach seinem „Herein“ öffnete sich die Tür und Frau Köster betrat mit einem freundlich, fröhlichen „Guten Morgen“ auf den Lippen das Zimmer. „Kaffee?“, fragte sie in seine Richtung blickend und hielt dabei mit der rechten Hand eine dampfende Tasse in die Höhe.
Strecker rückte, nachdem er ihren Gruß erwidert hatte, mit seinem Stuhl zur Seite, zog einen Stuhl an einen Schreibtisch heran und forderte die Sekretärin mit einer ausladenden Geste auf, neben ihm Platz zu nehmen.
„Na, dann wollen wir Sie mal in die Geheimnisse des BKA einführen“, sagte Frau Köster, als sie die Kaffeetasse auf Streckers Schreibtisch abstellte und auf dem dargebotenen Stuhl Platz nahm.
„Darf ich?“, fragte sie rhetorisch, weil sie die Antwort schon dadurch vorwegnahm, dass sie sich der Tastatur und der Maus seines Rechners bemächtigte.
Eine knappe Stunde später war der Hauptkommissar nicht nur Frau Köster, rein kollegial natürlich, sondern auch der kriminalistischen Arbeit mit elektronischen Hilfsmitteln näher gekommen. Mehr sogar noch. Neben neuem Wissen hatte er auch noch an Überzeugung gewonnen und dafür Vorbehalte verloren. Die noch immer den Großteil seines Schreibtisches verdeckenden Aktenstapel würde er nicht mehr benötigen.
Die Sitzung der Ermittler hatte nicht lange gedauert. Das war zwar gut für Frau Köster, weil das Protokoll entsprechend knapp ausfallen konnte, aber natürlich kein gutes Zeichen für das Fortkommen der Ermittlungen. Es gab weder neue, berichtenswerte Erkenntnisse, noch neue Ansatzpunkte. Die einzelnen Dezernatsmitglieder, mit Ausnahme von Hauptkommissar Strecker, berichteten kurz von ihren Aktivitäten am Vortag und den nächsten, anstehenden Schritten, aber wirklich hilfreich waren die jeweiligen Informationen für die Kollegen nicht. Immerhin war auch Dr. Brick anwesend, sodass Strecker nun alle seine neuen Kollegen kannte. Dr. Brick schien zu dem eher unscheinbaren Teil der Menschheit zu gehören. Klein, schmächtig, die Frisur kurz, braun und unspektakulär, genauso wie sein gesamtes Auftreten. Daran konnte auch die antiquiert erscheinende randlose Brille mit runden Gläsern, die eher an eine misslungene Bastelarbeit eines Oberschülers, denn an ein modisches Accessoire erinnerte, nichts ändern. Hätte Frau Köster Dr. Brick und HK Strecker nicht explizit miteinander bekannt gemacht, hätte letztgenannter ihn wahrscheinlich geflissentlich übersehen.
„Okay“, resümierte Hauptkommissar Faber sichtbar resigniert. „Erkennbare Fortschritte haben wir gestern wohl nicht gemacht. Also weiter wie besprochen. Herr Marten, Sie unterstützen unseren neuen Kollegen Strecker. Ab morgen soll er einsatzfähig sein. Dazu muss er alles wissen, was wir bisher wissen. Fragen?“
Wie gewöhnlich schien Faber keine zu erwarten, denn unmittelbar darauf stand er auf, schob seinen Stuhl an den Tisch und verließ den Besprechungsraum. Die übrigen Kollegen folgten seinem Beispiel, sodass wieder nur Kommissar Marten und Hauptkommissar Strecker im Raum zurückblieben.
„Gehen wir in Ihr Büro?“, fragte Marten. „Dann können wir für Sie hilfreiche Informationen gleich an Ihrem Arbeitsplatz platzieren.“
„Einverstanden“, antwortete der Hauptkommissar. „Wenn es Ihnen Recht ist, möchte ich vorher noch der Kantine einen kurzen Besuch abstatten. Ich bin noch nicht zum Frühstücken gekommen. Und das soll angeblich ja die wichtigste Mahlzeit des Tages sein. Treffen wir uns doch in 30 Minuten bei mir im Büro.“
Strecker war schon da, als Kommissar Marten gegen 10:00 Uhr an der Bürotür von 1.07 klopfte. Eine Minute später saß Marten dort, wo vor gut einer Stunde noch Frau Köster gesessen hatte.
„Warum ist das überhaupt ein Fall? Und warum ist das ein Fall für uns?“ Mit diesen Fragen begann der Hauptkommissar das Gespräch.
„Gute Fragen“, entgegnete Marten. „Lassen Sie mich zuerst die erste Frage etwas pauschal beantworten. Ob bzw. dass das ein einziger Fall ist, wissen wir noch nicht, vermuten es aber. Wie Sie den Akten vielleicht schon entnommen haben, wurden in den vergangenen Monaten mehrere Taten von unterschiedlichen Behörden verfolgt. Die Erkenntnis oder um genau zu sein, muss ich eigentlich sagen, die Vermutung, dass die Dinge zusammenhängen, ergab sich erst in der letzten Woche. Durch eine Vermisstenmeldung aus Köln. Die Mutter eines 16-jährigen Schülers namens Marc Johann hatte eine Vermisstenanzeige erstattet. Der Junge hatte am späten Nachmittag des 15.11., einem Mittwoch, das Haus verlassen und war abends nicht nach Hause gekommen. Seine Mutter hatte noch am späten Abend damit begonnen in seinem Freundeskreis herumzutelefonieren. Sie konnte seinen Aufenthaltsort aber nicht ermitteln. Dabei erfuhr sie allerdings, dass ihr Sohn bereits seit längerem den Kontakt mit seinen früheren Freunden nahezu eingestellt hatte. Als der Junge am nächsten Morgen immer noch nicht zu Hause war, hat sie im nächsten Revier in der Stolkgasse eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Die Familie wohnt in der Allerheiligenstraße im Kunibertsviertel. Die Gegend kennen Sie ja. Unsere Kollegen haben dann in der Schule angerufen und die Einlieferungen in die Kölner Krankenhäuser gecheckt. Aber keine Spur von dem Jungen gefunden. Am Nachmittag haben dann zwei Kollegen von der Kripo die Eltern aufgesucht. Bei der Gelegenheit hatte die Mutter erwähnt, dass der Junge in der letzten Zeit ständig vor seinem Computer herumgehangen hatte. Daraufhin haben die Kollegen die Eltern gebeten, ihnen den Computer mitzugeben. Und dessen Auswertung hat uns dann in das Spiel gebracht. Denn auf dem Computer hatten die Kollegen von der Kriminaltechnik in Köln Informationen gefunden, hauptsächlich in Form von Screenshots und Chatprotokollen auf denen unsere Theorie fußt. Demnach vermuten wir, dass der Junge Mitglied irgendeiner Sekte oder so etwas war, die sich als sogenannte Gemeinschaft von Assassinen bezeichnet. Wohl in Anlehnung an ein beliebtes Computerspiel namens „Assassin’s Creed“. Davon gibt es schon etliche Fortsetzungen. Dabei geht es darum, dass die Spieler spezielle Missionen erfüllen müssen, häufig geht es sogar darum gezielt Anschläge oder Morde durchzuführen. Natürlich sind die Spieler die Guten und die Anschlagsziele die Bösen. Irgend jemand hat dieses Prinzip mutmaßlich in die Realität transportiert. Offenbar heuert er über das Internet Spieler an, manipuliert sie und stiftet sie an, bestimmte Straftaten zu begehen. Und um die Gemeinschaft zu unterstreichen, tragen sie eine Art Uniform. Graue Kapuzenpullis. Und das brachte uns auf den Zusammenhang, denn es gab eine Vielzahl von Meldungen über in der jüngeren Vergangenheit verübte Straftaten, bei denen die Täter graue Kapuzenpullis getragen hatten. Und damit wurde es unser Fall.“
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