„Er sitzt in der Falle“, hörte er einen der Verfolger sagen. Wie hatten sie ihn entdeckt? Wieso hatten sie ihn entdeckt? Wie konnten sie sich so sicher sein?
Jetzt würde er kämpfen müssen. Hoffen, dass er über sich hinauswachsen und es irgendwie schaffen könnte. Aber sie waren viele. Zu viele? Zum Zählen war er gar nicht gekommen. Das müsste er nun nachholen, um seine Chancen abwägen zu können. Aber dazu müsste er die Deckung verlassen und sich stellen, den Verfolgern und seinem Schicksal in das Antlitz blicken.
Also erhob er sich, blickte auf den Eingang zur Gasse und erschrak. So viele? Mindestens sechs Verfolger bewegten sich langsam in seine Richtung. Dabei konnte er noch nicht einmal ausschließen, dass es noch mehr werden würden. Dass noch weitere Gegner in der Nebenstraße waren, die die Gasse und sein Sichtfeld noch nicht erreicht hatten. Er konzentrierte sich auf seine sichtbaren Gegner, fokussierte insbesondere die vorderste Gestalt.
Doch was war das? Etwas lenkte ihn ab. Er registrierte ein leises Quietschen. Das Licht hatte sich verändert. Es war heller geworden. Und dann erkannte er den Grund für die Veränderung. Eine Tür hatte sich geöffnet. Zuerst nur einen Spalt, dann immer mehr. Der Grund für die zunehmende Helligkeit war ein Lichtschein, der durch die geöffnete Tür zu ihm drang.
„Scheiße!“ Er hatte sich festgebissen. Hatte den Zwischenbericht gelesen, immer wieder nach Details in den Unterlagen gesucht und dabei zwar ein Gefühl für den Fall entwickelt, die Zeit darüber aber vollständig vergessen. Insofern erschrak Strecker heftig, als er auf die Uhr blickte. Fast 21:00 Uhr. Und er hatte keine Ahnung, wo genau seine neue Wohnung war, wie er da hinfinden sollte und was ihn da erwartete. Und Hunger hatte er auch noch, großen Hunger. Begleitet von einem tiefen Seufzer fuhr er den Rechner runter, klappte den Laptop zu, stand auf und schnappte sich Mantel und Reisetasche. Beinahe fluchtartig verließ er den Raum und hetzte zum Parkplatz. Nur wenige Minuten später hatte er das Navi auf sein neues Zuhause programmiert und machte sich auf den Weg. Regen peitschte auf die Scheibe, er konnte kaum etwas sehen, zudem wechselte sein Blick ständig zwischen Frontscheibe und Navi. Und zu essen musste er auch noch was finden. Irgendetwas. Da. Sein Blick blieb an einer Lichtreklame haften, die auf eine große Imbisskette hinwies. Eigentlich passte das nicht mehr zu seinen Vorsätzen. Ja, er hatte sich wirklich vorgenommen, die neue Stelle mit einem erweiterten Neustart zu verbinden. Also auch im privaten Umfeld einiges zu verändern. Die Ernährungsgewohnheiten zum Beispiel. Und auch den Alkoholkonsum, weshalb er auch darauf verzichtet hatte, die Flasche Wodka einzupacken. Apage satanas. Aber bevor er das Risiko einging, noch lange durch die Gegend zu irren und dann doch in einem drittklassigen Imbiss zu enden, entschied er sich für die sichere Option. Zu seinem Glück gab es auch einen Drive-In-Schalter. Dann brauchte er bei dem Scheißwetter noch nicht einmal mehr auszusteigen. Er musste aber irgendetwas bestellen, was er kannte. Aber das war kein Problem. Pommes gingen immer und einen dazugehörigen Hamburger würde er auch noch herunterwürgen können. Das war in der Vergangenheit ja auch immer gut gegangen. Und ein Getränk war auch noch im Preis enthalten. Er bestellte, zahlte, nahm seine Tüte entgegen, parkte den Wagen am Straßenrand und machte sich über den Inhalt der Tüte her. Keine fünf Minuten später waren der Inhalt der Tüte und der Hunger weg. Letzteren hatte er allerdings gegen ein Völlegefühl tauschen müssen. Er hatte den letzten Bissen noch nicht heruntergeschluckt, als er den Motor anließ und sich wieder in den Verkehr einfädelte. Nicht nur sein Hunger, auch der Regen war verschwunden. Das Navi leitete ihn durch die verschlafene Kleinstadt auf einen Parkplatz vor einem vierstöckigen Wohnblock. Er prüfte nochmals die Adresse, suchte noch aus dem Wagen heraus nach der richtigen Hausnummer, seufzte zufrieden und stieg aus. Nach einem kurzen Stopp am Kofferraum machte er sich mit seiner Tasche und hochgezogenem Mantelkragen auf den Weg zur Tür, fingerte den Wohnungsschlüssel aus der linken Hosentasche und öffnete die Tür. Er eilte, soweit seine Konstitution dies zuließ, durch den Hausflur, arbeitete sich von Wohnungstür zu Wohnungstür vor, bis er im 2. Stock rechts die Nummer 7 an der Tür prangen sah. Seine neue Heimat. Vorläufig. Er öffnete die Tür, schaltete das Licht ein und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Zweckmäßig, so war sein Urteil. Schon wieder. Ein Zimmer, eine abgetrennte Kochnische und hinten rechts eine Tür. „Die wird wahrscheinlich in das Bad führen“, dachte er. Strecker betrat das Zimmer, schloss die Tür, stellte die Tasche auf den Tisch und drehte eine Runde durch den Raum.
Rechts neben der Tür war eine kleine Sitzecke, davor ein Couchtisch. Daneben, Richtung Stirnwand, ein Esstisch mit vier Stühlen, dahinter eine kompakte Theke, die die Kochnische vom übrigen Raum trennte. An der Wand, die die Kochnische nach hinten begrenzte, befanden sich, von rechts nach links eine Spüle, der Kühlschrank, ein Herd und daneben noch ein Putzschrank. Über der Zeile war eine Schrankreihe an der Küchenwand befestigt. Der Hauptkommissar ging aus der Küchenzeile heraus nach rechts, öffnete die Tür und trat, wie erwartet in ein kleines Bad. Wie die übrige Wohnung, schmucklos aber funktionell. Rechts von der Tür die Dusche und eine Toilette, links ein Waschbecken, daneben ein Behälter für Schmutzwäsche oder ähnliches. Ein kleiner Badezimmerschrank hing über dem Waschbecken. Das Bett mit einem daneben stehenden Nachttisch stand links direkt neben der Tür. Ein Schrank zwischen dem Fußende des Bettes und der Badezimmerwand komplettierte die Einrichtung. Auch einen Fernseher gab es noch, er hing an der Wand, über dem Bett.
Strecker räumte seine Tasche aus, warf diese unten in den Schrank und deponierte seine Waschutensilien im Badezimmerschränkchen. Es war mittlerweile schon weit nach 22:00 Uhr. Er warf noch einen Blick in den Kühlschrank. Der würde seinen Beitrag zur Gewichtsreduktion leisten, war er doch gähnend leer. Also ohne Betthupferl und Nachttrunk zu Bett. Ohne Nachttrunk? War es ein Fehler gewesen, den Wodka nicht einzupacken? Nein, er verspürte nicht einmal ein kurzes Bedauern. Stattdessen war er beinahe ein wenig stolz auf sich. Den Fernseher würde er erst morgen ausprobieren. Und vorher noch einkaufen gehen. Der morgige Tag würde anstrengend werden. Und interessant. Er hatte viele Fragen. Auf die er Antworten haben wollte.
„Du weißt also nicht, wer Dich beauftragt hat?“
„Nein. Wie oft soll ich das denn noch sagen. Sie müssen mir glauben“, bettelte er. Er konnte kaum noch sprechen, sein Hals schmerzte vom Schreien und Schlucken. Er musste bereits Unmengen von Blut und Speichel heruntergeschluckt haben.
„Das kann ich nicht glauben. Kein Mensch kann so blöd sein und die Befehle eines Unbekannten befolgen. Eines Irren, den man nicht kennt. Also denk noch einmal nach. Du sagst es uns ja doch. Früher oder später. Also noch einmal. Wer hat Dich beauftragt?“
„Bitte“, kam es wieder schluchzend aus seiner Kehle. „Glauben Sie mir. Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüsste.“
„Ja, das würdest Du“, dachte er sich. Aber mit der Geschichte, die ihm der Junge erzählt hatte, würde er seine Auftraggeber nicht zufriedenstellen können. Denn er kannte seine Auftraggeber. Im Gegensatz zu dem Jungen. Und mit diesem Ergebnis konnte er denen nicht kommen. Aber was sollte er tun? Sie hatten dem Jungen nun schon dreimal den Strom durch den Körper gejagt. Schon nach dem ersten Mal hatte er geredet wie ein Buch. Ihnen Dinge erzählt, die sie nicht verstanden.
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