Die Götter der alten Griechen waren, wie man an diesem Beispiel sieht, nicht gerade zimperlich.
Während die Verkäuferin sorgfältig zwölf Scheiben Parmaschinken schneidet, komme ich nach kurzem Nachdenken zu dem Schluss, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit bei Athenes Mutter hier an der Wursttheke nicht um Metis handelt.
Ah, ich hab´s! Bestimmt ist es eine Patchwork-Familie. Vielleicht ist diese Frau hier Hera und hat Athene adoptiert? Die Gemahlin des Zeus pflegte sich zwar weidlich über die Liebschaften ihres Gatten zu ärgern, aber so richtig Paroli bot sie ihm nicht.
Doch wonach ist die andere Tochter benannt? Mykene kenne ich nur als antike griechische Stadt. Aber das will nichts heißen. Vielleicht war Mykene auch eine Tochter von Zeus. Na ja, wer weiß das schon so genau?
Auch Nele macht mich stutzig. Dieser Name scheint eher nordisch zu sein. Vielleicht eine Dame aus der Edda? In solchen Momenten denke ich an meinen verstorbenen Bücherfreund Günter. Er hätte das gewusst.
Er wusste mehr über Mythen und Sagen als jedes Lexikon. Endlich. Fünf dicke Wursttüten liegen neben der Waage und Hera spricht zu der Verkäuferin die erlösenden Worte: „Das war´s.“ Dann wendet sie sich mit säuselnder Sti mme an ihren Göttergatten: „Wenn du mit Athene und Mykene schon mal nach oben fährst – ich komme gleich nach!“
Die Nummer 180 wird aufgerufen, aber das amerikanische Pärchen hat längst das Weite gesucht. Ich bin dran. Der Göttervater trabt zum Ausgang. Vor sich schiebt er den Buggy, in dem Athene sitzt. Mykene hält er an der Hand.
Ich gebe meine Bestellung auf. Während das Messer in der Hand der Verkäuferin durch den Speck gleitet, sehe ich, dass Zeus einen Rucksack trägt.
Wahrscheinlich sind Windeln drin.
Ach ja, Nele. Nele, so hatte ich im weltweiten Netz recherchiert, ist eine friesische Kurzform von Cornelia. Na, das passt doch wie die Faust auf´s Auge!
Eine Tochter namens Mykene scheint Zeus nicht gehabt zu haben. Mit der antiken Stadt lag ich also richtig.
Wie das Pärchen wohl die nächste Tochter nennen wird?
Ich tippe auf Nofretete …
Das Phantom der Gänsekeule
„Naja“, sagt Herr P. mit glasigen Augen, richtet sich halb auf und schnuppert der Duftspur der Kellnerin hinterher, die gerade zwei Teller mit Gänsekeulen, Rotkohl und Klößen an uns vorbeigetragen hat, „naja, ein wenig Brot täte es zur Not vielleicht auch.“ Dabei versucht er, mit dem Taschenmesser eine goldene Haselnuss zu zerteilen.
Drei Mägen knurren Zustimmung. Verschwommen erinnere ich mich an die halbe Schnitte Toast mit Käse zum Frühstück. Das ist jetzt annähernd dreizehn Stunden her.
Es ist fast Adventszeit. Wir sitzen in einem hübschen Weinhaus in einer kleinen Stadt, ganz in der Nähe, wo der Mittelrhein in den Niederrhein übergeht. Wir – das sind Herr K., mein Verleger, Herr P. und Frau M. – und ich. Frau M. hat, wie schon bei den beiden Büchern zuvor, mein neuestes literarisches Werk abschließend lektoriert.
Vor wenigen Stunden ist dieses wenige Kilometer entfernt der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Nun möchten wir das gelungene Ereignis gerne ein wenig feiern, am liebsten mit Gänsekeulen, Rotkohl und Klößen. Doch wir sind flexibel. Wenn die Vogelbeine „aus“ sind, gäben wir uns auch mit den Kleinigkeiten auf den vor uns liegenden Speisekarten zufrieden, wie zum Beispiel gebackenem Camembert, ein paar Käsewürfeln oder einer aufgewärmten Tagessuppe.
Leider haben wir Pech. High Noon in der Küche war zweiundzwanzig Uhr, wie uns die Serviererin mit dem strengen Blick eines Feldwebels klargemacht hat. Jetzt ist es zehn nach und die Küche ist „dicht“. „Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder nach zweiundzwanzig Uhr etwas zu essen haben wollte?“, fragt sie unumwunden und sammelt die Speisekarten wieder ein, die sie uns kurz zuvor gebracht hatte.
Ich komme mir vor wie ein Hund, der mal an der Wurst schnüffeln darf, bevor sie ihm vor der Nase weggezogen wird. „Was zu trinken?“, fragt die Kellnerin und zückt Bleistift und Notizblock.
„Ein schönes frisch gezapftes Bier wäre herrlich!“, lächelt Herr K. die Kellnerin an. Doch die scheint eine Allergie gegen freundliche Gäste zu haben. Ihre Augen versprühen Gift. „Das hier ist ein WEINHAUS. Wir haben WEIN, das steht doch draußen dran. Als Bier gibt es nur Hefeweizen in Flaschen!“
Herr K., der lange bei der Bundeswehr gedient hatte, erkennt sofort die Befehlsstruktur in dieser Kneipe. Was hier der Feldwebel sagt, duldet keinen Widerspruch, schon gar nicht von hungrigen Gästen. Ergeben verlangt Herr K. noch einmal die Speisekarte und bestellt schließlich ein Viertel Roten. Ich entscheide mich für ein kleines Fläschchen Wasser, ebenso Herr P. und Frau M., wobei sie um zwei Gläser bitten.
Frau M., die bereits verstohlen einige Pappuntersetzer zerpflückt und in den Mund gesteckt hat, schaut trotzig in die Runde. „Wenn es hier schon nichts Offizielles zu essen gibt, dann verweigere ich auch den Getränkeumsatz!“ Wir nicken zustimmend und blicken verlangend auf die Tafel, die sich neben unserem Tisch befindet. Weißwürstchen mit Krautsalat, steht darauf mit Kreide geschrieben, Flammkuchen und Gänsekeulen mit Rotkohl und Klößen.
Mir ist flau. Dort, wo einst mein Magen war, scheint sich nun ein riesiges Loch zu befinden. Vor Lesungen pflege ich nämlich nichts zu essen. Kaffee, Tee, das ja, aber keine feste Nahrung.
Ich habe nämlich mal erlebt, dass nach dem Genuss von Linsensuppe eine widerspenstige kleine Hülsenfrucht in meinem Hals stecken blieb, die sich hartnäckig weigerte, die Speiseröhre hinabzurutschen. Das war nicht weiter schlimm, hätte ich nicht am Abend einen Text vortragen müssen. Das kratzige Gefühl auf meinen Mandeln und der Drang, mich zu räuspern, führten dazu, dass ich meinen Text in unziemlicher Eile vorlas. Seither faste ich vor solchen Veranstaltungen.
Frau Feldwebel kommt und knallt ein Viertel Roten und zwei Fläschchen Wasser vor uns hin. Dann blickt sie missbilligend auf Herrn P., der gerade mit seinem Schweizer-Messer die Tischdekoration geknackt hat – drei vergoldete Haselnüsse. Exakt die Hälfte der Beute schiebt er seiner Gattin rüber.
Ich wage noch einmal einen Vorstoß. „Hätten Sie nicht etwas Brot für uns?“, frage ich die Feldwebel-Dame zaghaft und setze hinzu: „Wir sind nämlich sehr hungrig!“ Damit hoffe ich, in der Kommandierenden so etwas wie Mitleid zu erwecken. Und, tatsächlich, sie knurrt: „Mal sehen, was ich für Sie tun kann!“
In mir keimt Hoffnung und plötzlich habe ich ein Déjà-vu: Vor einigen Jahren wollte ich mit Freunden in diesen Räumen Gans essen. Es war um Sankt Martin. Bei einem Besuch in der Kleinstadt eine Woche zuvor hatte ich nämlich eine Tafel an dem Weinhaus gesehen, auf der stand: „Gänsekeule mit Rotkohl und Klößen“.
Wunderbar, eine nette kleine Gaststätte, ein deftiges Mahl und noch dazu ein guter Rotwein! Ich war begeistert und voller Vorfreude.
Dann reservierte ich einen Tisch und bestellte schon mal vorsichtshalber sechs Portionen des edlen Geflügels. Fröhlich, hungrig und erwartungsvoll trafen wir an einem kalten Samstagabend in der Gaststätte ein. Zufälligerweise war es derselbe Tisch wie der, an dem wir nun an diesem Abend saßen.
Doch leider hatte der Wirt vergessen, meine Bestellung zu notieren. Zudem waren bedauerlicherweise alle Gänse ausgeflogen, weshalb wir uns zu dem Einzigen entschlossen, was die Küche noch zu bieten hatte. Das waren vor Fett triefende Bratkartoffeln und ebensolche Schnitzel. Der guten Stimmung tat das keinen Abbruch. Vor allem unsere Gallen liefen an jenem Abend zur Höchstform auf.
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