Copyright © Rasa Aškinyte 2016
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»Glesum« bei Vaga, Vilnius, Litauen.
Die Übersetzung des Buches wurde gefördert vom
Lithuanian Culture Institute (LCI) in Vilnius.
Deutsche Erstausgabe 2021
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten.
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Lektorat: André Schinkel, Halle (Saale)
Layout und Satz: Stefanie Bader, Leipzig
Umschlagabbildung: © iStock – o-che, Baksiabat
ISBN 978-3-96311-593-6
Der Siegerin gewidmet
So war es nicht, aber so hätte es sein können.
I. Alpha Ursae Minoris oderder Polarstern Im Kleinen Bären I. ALPHA URSAE MINORIS oder DER POLARSTERN IM KLEINEN BÄREN Der Polarstern ist der hellste Stern im Kleinen Bären und, wenn man es genau nimmt, ein Dreifachsternsystem, bestehend aus einem großen Stern mit zyklisch sich ändernder Helligkeit und seinen zwei Begleitern. Einer dieser Begleiter ist 17-mal weiter vom Hauptstern entfernt als die Erde von der Sonne und umkreist jenen in dreißig Jahren, während der andere in 2.400-facher Erde-Sonne-Entfernung für eine Umkreisung 42.000 Jahre braucht. Der Polarstern ist dem nördlichen Himmelspol am nächsten und nimmt, was die Helligkeit betrifft, den 48. Platz unter den Sternen im bekannten Universum ein. Er leuchtet 45.000-mal heller als die Sonne und hat die 45-fache Größe. Man sieht ihn das ganze Jahr über von jedem Ort der Nordhalbkugel aus an derselben Stelle. Als Navigationsstern hilft er Reisenden bei der Feststellung der Richtung. Um den Polarstern kreisen der Große und der Kleine Bär sowie weitere Sterne, deshalb hielt man ihn in alten Zeiten für das Zentrum des Himmels. Seine Entfernung zur Erde beträgt 432 Lichtjahre.
1. Schnee 1. Schnee Der Schnee lag so hoch, dass die Frau fast bis zum Knie einsank. Auch die Pelze, die sich um die muskulösen, mit Fellen umschnürten Beine flochten, störten beim Gehen. In einer Schulter der Frau klaffte eine tiefe Wunde, aus der ganz langsam Blut sickerte. Noch bevor die roten Tropfen den Boden erreichten, verschlang sie auch schon die blendende Weiße des Schnees. Die Frau war mutterseelenallein. Sie wusste, dass sich im Umkreis, den sie mit ihren Sinnen erfassen konnte, kein anderer Mensch befand. Sie hätte ihn sonst gewittert oder gehört. Ihr Zuhause hatte sie weit hinter sich gelassen. Sie wusste, in welche Richtung sie gehen musste, konnte sich ausgezeichnet orientieren. Die anderen zu finden gehörte zu den Grundvoraussetzungen fürs Überleben, deshalb marschierte die Frau schon seit Tagen unbeirrbar nach Hause. Sie fühlte sich hungrig und erschöpft, doch sie durfte nicht anhalten. Schlaf hieß Tod. Rundherum nichts auszumachen, nur Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Und Wölfe. Noch kamen sie nicht gefährlich nahe, drehten nur in einigem Abstand ihre Runden um sie. Die Nüstern der Frau weiteten sich, sie schnupperte schweigend die Luft, erfüllt von Grausamkeit und dem Instinkt, um jeden Preis zu überleben. Die Frau hatte keine Angst. Dieses Land war nie das ihre gewesen, hatte ihr niemals gehört. Ebenso wie ihr Leben. Die Frau wusste nicht, wie man trauert. Und auch nicht, wie man weint. Oder Erbarmen zeigt. Und auch nicht, wie man wartet oder hofft. Das Einzige, von dem sie etwas verstand, war zu kämpfen und zu leben. Sie konnte dem Wolf direkt in die Augen sehen, aus dem Atem und dem Herzklopfen schließen, wer stärker ist. Die Wölfe kamen immer näher, schlichen sich mit immer mehr Mut an. Sie sah ihre großen grauen Körper. Leises Knurren und blendendes Weiß. Die Frau hob einen großen Knüppel vom Boden auf, drückte ihn fest in ihrer gesunden Hand zusammen, atmete aus und hieb mit aller Kraft auf den am nächsten bei ihr stehenden Wolf ein. Es schneite immer stärker.
2. Wasser
3. Blut
4. Nebel
5. Met
6. Tränen
7. Milch
II. Beta Ursae Minoris oder Kochab Im Kleinen Bären
8. Nebel
9. Regen
10. Tränen
11. Blut
12. Milch
13. Met
14. Wasser
III. Gamma Ursae Minoris oder Pherkad Im Kleinen Bären
15. Met
16. Milch
17. Nebel
18. Regen
19. Tränen
20. Wasser
21. Blut
IV. Delta Ursae Minoris oder Yildun Im Kleinen Bären
22. Milch
23. Met
24. Wasser
25. Tränen
26. Regen
27. Blut
28. Nebel
V. Epsilon Im Kleinen Bären
29. Blut
30. Tränen
31. Schnee
32. Wasser
33. Nebel
34. Milch
35. Met
VI. Zeta oder Alifa al Farkadain Im Kleinen Bären
36. Wasser
37. Nebel
38. Milch
39. Met
40. Blut
41. Regen
42. Tränen
VI. Eta oder Anwar al Farkadain Im Kleinen Bären
43. Tränen
44. Blut
45. Met
46. Milch
47. Wasser
48. Nebel
49. Schnee
I.
ALPHA URSAE MINORIS
oder
DER POLARSTERN
IM KLEINEN BÄREN
Der Polarstern ist der hellste Stern im Kleinen Bären und, wenn man es genau nimmt, ein Dreifachsternsystem, bestehend aus einem großen Stern mit zyklisch sich ändernder Helligkeit und seinen zwei Begleitern. Einer dieser Begleiter ist 17-mal weiter vom Hauptstern entfernt als die Erde von der Sonne und umkreist jenen in dreißig Jahren, während der andere in 2.400-facher Erde-Sonne-Entfernung für eine Umkreisung 42.000 Jahre braucht.
Der Polarstern ist dem nördlichen Himmelspol am nächsten und nimmt, was die Helligkeit betrifft, den 48. Platz unter den Sternen im bekannten Universum ein. Er leuchtet 45.000-mal heller als die Sonne und hat die 45-fache Größe. Man sieht ihn das ganze Jahr über von jedem Ort der Nordhalbkugel aus an derselben Stelle. Als Navigationsstern hilft er Reisenden bei der Feststellung der Richtung. Um den Polarstern kreisen der Große und der Kleine Bär sowie weitere Sterne, deshalb hielt man ihn in alten Zeiten für das Zentrum des Himmels. Seine Entfernung zur Erde beträgt 432 Lichtjahre.
Der Schnee lag so hoch, dass die Frau fast bis zum Knie einsank. Auch die Pelze, die sich um die muskulösen, mit Fellen umschnürten Beine flochten, störten beim Gehen. In einer Schulter der Frau klaffte eine tiefe Wunde, aus der ganz langsam Blut sickerte. Noch bevor die roten Tropfen den Boden erreichten, verschlang sie auch schon die blendende Weiße des Schnees.
Die Frau war mutterseelenallein. Sie wusste, dass sich im Umkreis, den sie mit ihren Sinnen erfassen konnte, kein anderer Mensch befand. Sie hätte ihn sonst gewittert oder gehört. Ihr Zuhause hatte sie weit hinter sich gelassen. Sie wusste, in welche Richtung sie gehen musste, konnte sich ausgezeichnet orientieren. Die anderen zu finden gehörte zu den Grundvoraussetzungen fürs Überleben, deshalb marschierte die Frau schon seit Tagen unbeirrbar nach Hause. Sie fühlte sich hungrig und erschöpft, doch sie durfte nicht anhalten. Schlaf hieß Tod.
Rundherum nichts auszumachen, nur Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Und Wölfe. Noch kamen sie nicht gefährlich nahe, drehten nur in einigem Abstand ihre Runden um sie. Die Nüstern der Frau weiteten sich, sie schnupperte schweigend die Luft, erfüllt von Grausamkeit und dem Instinkt, um jeden Preis zu überleben.
Читать дальше