»Lass mich in Ruhe!«, brüllte sie.
Jemand rüttelte jetzt an ihrer Tür. Sie hatte abgeschlossen, doch das Schloss sprang auf. Das tat es seit dem Tag vor zwei Jahren, als sie sich das erste Mal eingeschlossen und ihr Vater die Tür eingetreten hatte, weil sie ihrer Mutter erzählt hatte, dass sie nicht mehr leben wolle. Ihre Mutter hatte doch keine Ahnung. Sie hatte ja nicht ganz sterben wollen. Es war doch ihr Wunsch, ein Vampir zu werden. Unsterblich und mit feiner weißer Haut. Die weiße Haut hatte sie fast, da hier in Clausthal die Sonne nicht so häufig schien. Dafür war sie mit lästigen Pickeln übersät, vor allem immer dann, wenn sie ihre Regel bekam. Wie sie es hasste!
Mittlerweile stand ihre Mutter im Zimmer und wedelte mit einem Einkaufskorb vor ihrem Gesicht hin und her.
»Sabrina Wilhelmine Schubert, auch wenn du heute Geburtstag hast, wirst du sofort deinen faulen Hintern aus dem Bett schwingen und einkaufen gehen. Hier ist der Zettel und genug Geld. Trödle nicht herum, ich brauche die Zwiebeln fürs Mittagessen. Ich koche dein Lieblingsgericht.«
Eine kurze Pause entstand, als Mutter und Tochter sich taxierend anstarrten. Für einen Moment schien unklar, wer dieses Blickduell gewinnen würde. Schließlich verdrehte Sabrina die Augen und kletterte aus dem Bett.
»Das ist doch voll uncool, Mama. Der Korb ist so altmodisch. Ich sehe damit unmöglich aus!«
»Nun, mein Schatz, das denken einige andere auch von den Sachen, die du sonst so trägst. Da kommt es auf einen Korb auch nicht mehr an, oder meine Liebe?« Ihre Mutter lächelte, wie nur jemand lächeln konnte, der sein Kind trotz aller pubertären Eskapaden noch so liebte wie am ersten Tag.
Obwohl sie wusste, dass sie diesen Wettstreit verloren hatte, bäumte Sabrina sich nochmals auf und warf sich trotzig ihren dunklen langen Mantel über. Auch dieser völlig abgetragene Ledermantel stammte von einem Flohmarkt. In mühevoller Kleinarbeit hatte sie ihn mit schwarzer Schuhcreme bearbeitet, um ihn dunkler zu bekommen. Das war ihr zwar gelungen, aber er hatte danach abgefärbt und ihr den ganzen Hals geschwärzt. Alle hatten sie in der Schule deswegen ausgelacht. Inzwischen färbte er nicht mehr ab und zeigte sich nun in einem eher dunkelgrauen Anthrazit. Auf jeden Fall war er cool und nur darauf kam es an. Sie griff nach dem Korb und ging wutschnaubend zum Einkaufen – nicht ohne die Haustür hinter sich zuzuknallen, was sicher einen weiteren Ausruf ihrer Mutter auslöste, den sie jedoch nicht mehr hörte.
Sabrina wohnte in der Nähe der Schule in einem kleinen Haus am Kreisel. Als sie die Straße Am Zellbach hochging, bereute sie bereits, ihren Mantel angezogen zu haben. Das Wetter schien sich gegen sie verschworen zu haben. Keine Wolke bedeckte den Himmel und die Sonne brannte erbarmungslos. Sabrina lief der Schweiß in Sturzbächen den Rücken herunter, tropfte von ihrer Stirn und sammelte sich in ihrem Ausschnitt. Sie fluchte leise, widerstand aber dem Verlangen, den Mantel auszuziehen. Wie ein Vampir am Tage versuchte sie, von Schatten zu Schatten zu huschen, aber das misslang ihr ein ums andere Mal. Kurzentschlossen schwenkte sie am Kronenplatz auf einen Schlenker über den Friedhof ab. Dort standen genug Bäume und außerdem zählte er zu ihren Lieblingsorten. Sie bog hinter der Post in die Erzstraße und dann nach rechts in einen schmalen Fußweg auf den Friedhof. Unter den Bäumen wurde es sofort kühler und Sabrina atmete auf. Am Tor kam ihr eine alte Frau entgegen. Sie hatte für eine Seniorin ungewöhnliche Kleidung in nachtblauer Seide an. Damit sah sie eher aus wie eine Frau aus dem 19. Jahrhundert. Ein kurzer Blick auf die Schuhe verriet Sabrina eindeutig, dass sie offensichtlich nicht direkt hier wohnte. Sie waren zu vornehm und zierlich. Dennoch schien sich die alte Dame auszukennen, denn diese Seitenpforte nahmen nur Einheimische. Sabrina hielt die Pforte auf, was ein freundliches, anerkennendes Nicken bei der Frau auslöste.
»Oh, du willst jemanden besuchen. Das ist aber nett von dir. Was für ein heißes Wetter wir heute haben. Ein besonderer Tag, ein denkwürdiger Tag. Das ist gar nicht typisch für den Harz, das hat mir Ernst-Gustav auch gerade gesagt.«
Sabrina blickte verwirrt. Sie druckste ein »Ja, schon klar!« heraus und huschte ihrerseits schnell durch die Pforte. Sie reimte sich zusammen, dass es sich bei dem erwähnten Herrn vermutlich um ihren verstorbenen Mann, Bruder oder einen anderen männlichen Verwandten handeln musste und sie gerade von seinem Grab kam. Die Friedhofbesucherin hatte dort anscheinend Selbstgespräche geführt. Die alte Frau wandte sich noch einmal um und lächelte sie an.
»Sie haben da einen schönen Mantel, meine Liebe, genauso einen hatte Ernst-Gustav auch, als er noch dem Führer gedient hat. Mir wäre der ja zu warm bei dem Wetter. Gießen Sie die Blumen aber nicht zu stark, es wird heute noch regnen, auch wenn es nicht danach aussieht.« Noch während sie weiterredete, wandte sich die Seniorin ab und ging mit wackeligen Schritten den Weg zur Erzstraße hinunter. Auf halbem Wege blieb sie nochmal stehen und rief ihr über die Schulter zu: »Ach, was ich beinahe vergessen hätte: Alles Gute zum Geburtstag!«
Sabrina, die ihr nachgeblickt hatte, klappte nun sprachlos der Unterkiefer herunter. Wer war die Alte? Kannte sie die Frau? Aber woher? Heute war ihr Geburtstag, aber bis auf ihre Eltern wusste das vermutlich niemand. Irgendwie war ihre Lust auf den Friedhof verflogen.
Sie verwarf den Gedanken, sich auf eine Bank zu setzen, und stapfte Richtung Haupteingang. Während sie noch krampfhaft zu erraten versuchte, woher sie diese alte Frau kannte, kam sie an einem Grab vorbei, auf dem frische Blumen standen. Es wäre ihr nicht sonderlich aufgefallen, wenn nicht auf dem Grabstein ein paar weiche, schwarze Damenlederhandschuhe gelegen hätten, gerade so, als wenn sie jemand vergessen hätte. Sabrina blieb stehen und blickte auf den Stein. Dort stand:
Ernst-Gustav Steiger, Lt. d. R.
* 02.05.1905 † 07.05.1945
Sophie Wilhelmine Steiger
* 22.07.1909 † 22.07.1999
Sabrina las die Inschrift mehrmals. Den Mann kannte sie nicht, aber die verstorbene Frau war nicht nur am selben Tag geboren und gestorben, sondern war genau an dem Tag gestorben, an dem sie vor sechzehn Jahren geboren worden war. Und heute war der 22.07.2015 – ihr Geburtstag. Das konnte doch alles kein Zufall sein!
Noch größer wurden ihre Augen, als sie den Namen nochmals las. Sabrina trug den gleichen zweiten Vornamen wie sie: Wilhelmine. Sabrina mochte den Namen nicht. Wie hatte sie ihre Mutter schon verflucht, aber diese hatte immer wieder gelächelt und ihr gesagt, dass sie diesen Namen zu Ehren ihrer Urgroßmutter trug. Ihr Blick fiel wieder auf die Handschuhe. Sie mussten der alten Dame gehören. Kurzentschlossen griff sie danach und rannte durch die Pforte zur Erzstraße zurück. Doch von der alten Frau war weit und breit nichts zu sehen. Sabrina blieb auf der Straße stehen und keuchte. Sie war einfach keinen Sport gewöhnt und nun war sie zum zweiten Mal in kurzer Zeit völlig durchgeschwitzt und aus der Puste. Zur Abkühlung trat sie in den Schatten eines Hauses und atmete tief durch. Erst jetzt untersuchte Sabrina die Handschuhe etwas genauer. Wie weich sie sich anfühlten, fast wie Haut. Ihre Finger glitten bewundernd darüber. Sie waren perfekt und vermutlich sehr teuer. Dabei kam ihr ein Gedanke.
Manchmal nähten die Frauen Namensschilder in ihre Kleidungstücke. Tatsächlich fand sich auf der Innenseite des Futters ein angenähtes Stück Stoff mit aufgestickten Initialen: S.W.S.
»Sophie Wilhelmine Steiger«, hauchte Sabrina. Dann schüttelte sie den Kopf. Das konnte nicht sein. Nach einer Pause kam ihr ein anderer Gedanke und sie sagte zu sich selbst: »Oder: Sabrina Wilhelmine Schubert«. Sie zog kurzerhand einen davon an. Er passte wie angegossen. Das gab es doch nicht. Sabrina war abergläubisch veranlagt und hatte genug Fantasy- und Gruselromane gelesen, um an mehr, als nur Zufall zu glauben. Trotz des Mantels wurde ihr kalt und sie blickte sich hastig um, aber niemand schien von ihr Notiz zu nehmen. Wenn sie die alte Frau nicht wiedersah, würde sie die Handschuhe behalten, dachte sie bei sich, während sie den einen von der Hand zog, sich wieder umdrehte und zurück zum Friedhof ging. Als sie erneut an dem Grabstein vorbeikam, blieb sie noch einen Moment stehen.
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