Verdammte Amateure, mit denen man sie losgeschickt hatte, dachte Anna verdrossen. Ein Blick vor die geborstene Haustür genügte, um ihr zu zeigen, dass die andere Jägerin auch nicht mehr lebte. Es bot sich ein grässliches Bild einer verkohlten Leiche in unverbrannter Kleidung mit weit aufgerissenem Mund und hohlen Augenhöhlen. Larindra war ihr Name gewesen, soweit sich Anna erinnerte. Sie hatte vor einigen Minuten noch wunderschön ausgesehen. Dem Rat würde das gar nicht gefallen. Anna wandte sich um und durchsuchte die Hütte gründlich. Vieles war zerstört, doch in einem Rezeptbuch für Arzneien stieß sie auf einen Namen. Dr. med. Rawinda Borga . Anna Binsenkraut keuchte auf. Wenn es sich um die Borga handelte, dann hatte sie mehr als Glück gehabt, das eben zu überleben. Borga war eine Legende unter den Hexen. Anna überlegte eine Weile. Wann hatte Borga noch den Vorsitz des Hohen Rates innegehabt? Es muss zu Zeiten von Napoleon gewesen sein, aber man hatte sie wegen schwarzer Magie angeklagt und zum Tode verurteilt. Soweit die Geschichte der Hexen weiter berichtete, war Borga vor ihrer Hinrichtung geflohen und hatte den Rat verflucht. Was genau ihr Fluch aussagte, war nicht überliefert, aber seit dieser Zeit hatte der Rat in Berlin nicht mehr die Bedeutung in der Welt, die er zuvor hatte. Borga hier zu finden, kam einer Sensation gleich. Anna war sich bewusst, dass dies alle in Berlin aufschrecken würde. Doch damit sollte sich der Rat selbst herumschlagen. Sie hatte ihr Ziel erreicht und die Identität der gesuchten Hexe aufgedeckt. Mehr hatte man nicht von ihr verlangt.
Behutsam sammelte sie alle Beweise ein, die sie finden konnte. Nachher würde sie dann die ganze Hütte in Brand stecken. Kein Normalsterblicher durfte sehen, was sich hier befunden hatte.
Beim Durchsehen der Dinge im Hauptraum fand sie noch etwas Merkwürdiges. Es schien ein Splitter eines Kristalls zu sein. Da es durch die Phiolen und anderen Glasdinge abertausende Splitter gab, war es ein Wunder, dass sie diesen überhaupt fand. Er stammte von einem Bergkristall, so viel konnte sie erkennen. Seltsamerweise hatte er sich nachtschwarz verfärbt. Ein Blick in die magische Dimension enthüllte, dass er fast komplett ausgebrannt war. Als sie ihn berührte, flackerte kurz ein schwaches Bild in ihrem Geist von einem kleinen Baby auf. Ein Kribbeln jagte ihren Arm hinauf, aber das Bild verschwand sofort wieder, doch das Kribbeln blieb länger und machte ihren Arm fast taub. Das war in der Tat merkwürdig. Anna konnte sich keinen Reim darauf machen, wickelte den Kristallsplitter vorsichtig in ein Taschentuch und steckte ihn in ihre Hosentasche. In der Küche fand sie einen Kanister mit Petroleum. Sie verschüttete ihn in dem Haus. Als sie ihr Werk schließlich vollendet hatte, ging sie hinaus und zog die Jägerin, die draußen lag, auch hinein. Sie suchte die Taschen ab und fand den Autoschlüssel des Dienstwagens, der auf dem Parkplatz wartete, und nahm ihn an sich. Dann steckte sie das Haus in Brand. Ohne zurückzublicken, lief sie über den Weg zurück. In Berlin würde man große Augen machen.Das
Sabrina hatte vor dem Schulgebäude, einem roten Backsteinbau, auf Elisabeth gewartet. Dankbar, dass ihre Mutter nicht mitkam, weil sie Klara begleitete, war Elisabeth auf ihre neue Freundin zugelaufen. Die Schüler strömten in kleinen Gruppen ins Gebäude. Die meisten kamen zu Fuß. Der Schulbus hielt am Busbahnhof etwa dreihundert Meter den Berg hinunter, dort wo der alte Bahnhof einst gelegen hatte. Die Schienen hatte man vor vielen Jahren entfernt. Es muss spannend gewesen sein, dachte Elisabeth bei sich, früher mit einer schnaufenden Dampflokomotive hier hinaufzufahren. Es gab im Ostharz noch einige von den Harzer Schmalspurbahnen. Die bekannteste davon schlängelte sich von Wernigerode über Schierke bis zum Brocken hinauf, aber hier in Clausthal gab es keine Schienen mehr. Schade eigentlich. Sabrina lächelte sie an.
»Bereit für deinen ersten Tag? Meine Ma hat schon mit deiner Mutter telefoniert. Du bist nach der Schule zum Spaghetti-Essen eingeladen! Vegan natürlich.« Sabrina rollte mit den Augen. »Auch wenn ich eigentlich die Thunfisch-Weißweinsoße lieber mag!«, setzte sie hinzu. »Aber Ma hat mir vorgerechnet, wie viel Kalorien weniger das sind, und ich will ja abnehmen.«
Elisabeth musterte Sabrina. Ihre Figur wirkte zugegebenermaßen recht kräftig. Sie hatte eine zerschnittene Jeans an und ein Top, das eher aussah wie ein schwarzes Spinnennetz, allerdings verschleierte es etwas Sabrinas Ausmaße. Passend dazu hatte sie schwarzen Lidschatten und dunkelroten Lippenstift aufgetragen. Elisabeth fand das Outfit cool, vielleicht deswegen, weil ihre Mutter ihr nie so etwas erlaubt hätte. Sabrina hakte sie unter und sie betraten das Gebäude. Es war viel kleiner als die Schule in Hannover mit ihren Plastikwänden und riesigen Gängen. Hier wirkte alles beschaulich. Von der zehnten Klasse gab es nur eine A und eine B. Sabrina steuerte zielsicher auf das Klassenzimmer der B zu. Einige Schüler saßen schon im Raum. Sabrina zog Elisabeth mit und setzte sich, ohne jemanden zu fragen, in die erste Reihe. Elisabeth zögerte.
»Sei nicht so schüchtern, setz dich!«
»Nun ja, ich habe noch nie in der ersten Reihe gesessen. Ich verdrücke mich meistens nach hinten!«, gab diese zu.
»Damit ist jetzt Schluss! Ich habe dir versprochen, dass ich dir helfe, und das tue ich auch. Hier vorne bekommt man alles mit und du kommst auch häufiger dran!«
Mit einem leicht verängstigten Blick setzte Elisabeth sich dann doch hin.
»Schau mal, die Grabschlampe hat eine Freundin gefunden! Heißes Gestell, wenn auch etwas dürre.« Vinzenz und seine zwei Schatten, Alim und Ojan, standen in der Tür.
Sabrina wurde vor Wut rot, was sich bei ihrer hellen Haut in tiefem Rosa zeigte. Elisabeth tat lieber so, als hätte sie es nicht gehört und suchte etwas in ihrer Tasche. Sie wusste nicht, was sie auf den Spruch erwidern sollte, und war dankbar, dass in dem Moment ein blonder Junge mit Sommersprossen sich an den Dreien vorbeischob und ebenfalls in die erste Reihe setzte, direkt neben Elisabeth auf die andere Seite des Mittelganges.
»Na, da ist ja der andere Streber! Kannst schnell laufen, Theo.« Mit höhnischem Gelächter gingen die drei zur letzten Reihe und fläzten sich hin. Alle anderen in der Klasse machten ihnen eiligst Platz.
»Hi Theo!«
»Hi Brina! Du musst die Tochter von den Wollners sein, richtig?«, Theobald sah Elisabeth erwartungsvoll an.
Elisabeth gaffte mit offenem Mund zurück und vergaß ganz, zu antworten. Sabrina sprang für sie ein.
»Ja und sie hat auch einen Namen, sie heißt Elisabeth!«
»Klar! Deine Mutter habe ich schon kennengelernt. Du hast noch eine Schwester, richtig?« Als Elisabeth immer noch nicht antwortete, ergänzte er, »Dies ist eine kleine Bergstadt. Hier bekommt man vieles mit. Dein Vater hat im Matheinstitut angefangen, oder? Bist du auch ein Mathefreak?«
Elisabeth schüttelte mit traurigem Blick den Kopf. »Genau da bin ich eine Vollniete«, räumte sie ein. Sie fand Theobald gar nicht aufdringlich. So, wie er das betonte, war es eine simple sachliche Feststellung, nicht mehr. »Aber Sabrina will mir helfen!«, verriet sie ihm gleich.
»Wenn du Fragen hast, kein Ding. Kannst mich auch immer fragen!«
»Soso, willst du etwa etwas wiedergutmachen, indem du jetzt deine Hilfe anbietest?«, funkelte Sabrina Theobald böse an.
Elisabeth wusste zwar nicht, worauf ihre Freundin anspielte, aber jetzt wurde Theobald rot und drehte sich von ihnen weg. Sabrina warf ihr einen wissenden Blick zu, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu erklären, denn jetzt betrat eine ältere Frau mit Nickelbrille und strengem Anzugskostüm das Klassenzimmer. Zu Elisabeths Verwunderung setzte schlagartig ein Gescharre von Stühlen ein, als alle Schüler gleichzeitig aufsprangen, sogar die drei in der letzten Reihe. Also tat Elisabeth es ihnen gleich.
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