1.1 Religio – das vorneuzeitliche Religionsverständnis
Zur Unterscheidung vom neuzeitlichen Religionsbegriff verwenden wir für das bis dahin geltende Religionsverständnis den lateinischen Begriff religio. Der Blick in ein Wörterbuch instruiert über die beiden Hauptbedeutungen dieses Begriffs. Sie lassen sich einerseits auf „Bedenken, Gewissenhaftigkeit, Gottesfurcht“ und andererseits auf „Gottesdienst, Kultus, Heiligkeit“ konzentrieren. Darin deuten sich die beiden für unseren Zusammenhang bedeutungsvollen Dimensionen der Verwendung des Begriffs religio an: 1
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1. Das Verständnis von religio war stets mit einem bestimmten Glaubensverständnis und dem damit verbundenen Wahrheits- und Legitimitätsanspruch verbunden. Es wurde zwischen ‚wahrer Religion‘ (religio vera) und ‚falscher Religion‘ (religio falsa) in Sinne einer Grenzziehung zwischen rechter und verkehrter Gottesverehrung unterschieden. In diesem Sinne steht religio für eine anzuerkennende Glaubensgewissheit (synonym gebraucht mit fides). Wenn Martin Luther schreibt: Extra Christum omnes religiones sunt idola 2(Jenseits von Christus sind alle religiones Götzendienst), so liegt der Akzent auf den Vollzügen der Gottesverehrung. Religio wird synonym zu cultus gebraucht. Aller Kult sei so lange zu verdammen, wie er sich nicht allein auf den Glauben an Christus stützt. 3– Kommen andere Glaubensgewissheiten in den Blick, so wurden als Oberbegriffe vor allem secta oder lex verwandt. Von den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam wurde als den tres leges gesprochen – ein Sprachgebrauch, der bis in Gotthold E. Lessings Nathan der Weise nachgewirkt hat, wo es heißt: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten eingeleuchtet?“ 4
2. Mit religio wurde in institutionellem Gebrauch derjenige Stand bezeichnet, der seiner beruflichen Bestimmung nach die rechte Gottesverehrung repräsentierte, nämlich die Orden.
Noch für die Reformationszeit ist von diesen beiden Gebrauchsweisen von religio auszugehen. So stellt etwa Huldrych Zwingli seine grundlegenden Einsichten über den reformatorischen Glauben unter den Titel De vera et falsa religione commentarius (1525). Das gilt ebenso für die deutlich umfänglichere Dogmatik von Johannes Calvin mit dem Titel Institutio christianae religionis (Unterricht in der christlichen Religion; letzte Fassung 1559). Es geht allein um die (reine) Lehre ([sana] doctrina) zur rechten Verehrung Gottes nach dem christlichen Glauben, ohne dass Calvin dabei auf die Idee gekommen wäre, eine interkonfessionelle oder gar interreligiöse Dimension ins Auge zu fassen. Die älteste Verteidigungsschrift des christlichen Glaubens, die religio im Titel führt, stammt von Augustin (um 390): De vera religione.
Die Etymologie von religio lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Der Religionswissenschaftler Carsten Colpe schreibt: „Das lat. Wort religio wird schon von den Alten verschieden abgeleitet, z. B. von Cicero (De natura Deorum 2, 28, 72) von relegere‚ (wieder)zusammennehmen (was sich auf die Verehrung der Götter bezieht)‘; und von einem beim Grammatiker Gellius (4, 9, 1) zitierten Etymologen von der Nebenform religere ‚rücksichtlich beachten‘; dagegen von Servius (ad Verg. Aen. 8, 349), Lactantius (Inst. 4,28) und Augustinus (Retract. 1, 13,9) von religare ‚zurückbinden, an etwas befestigen‘. Moderne Etymologen neigen der letzteren Ableitung zu (Wurzel lig- ‚binden‘); religio bedeutet dann ursprünglich dasselbe wie obligatio, nämlich ‚Verbindlichmachung, Verpflichtung‘. Daneben wird aber auch die Ableitung von leg- ‚sich kümmern um‘ vertreten; dann wäre religio etwas Ähnliches wie diligentia ‚Achtsam-keit‘. “ 5Andere Religionswissenschaftler verzichten ganz auf eine Herleitung des Begriffs, nicht nur weil sie sich nicht tatsächlich klären lässt. Sie weisen darauf hin, dass eine inhaltliche |12◄ ►13| Ableitung den problematischen Eindruck erwecken könne, der Begriff lasse sich auch in nichteuropäische Sprachen übersetzen, um dann zur Selbstbezeichnung entsprechender Inhalte empfohlen zu werden. Die Reichweite des Religionsbegriffs wird dann ausdrücklich auf die europäische Religionsgeschichte begrenzt. 6
1.2 Die Entdeckung des Menschen – der Renaissance-Humanismus
Eine fundamentale Voraussetzung sowohl für die Neuzeit als auch für das neuzeitliche Religionsverständnis liegt in der Entdeckung der besonderen Herausgehobenheit und somit des von Gott ausgezeichneten Adels des Menschen, wie sie sich im Humanismus der Renaissance vollzogen hat. Die verschiedentlich vorgetragene Annahme, dass es bereits hier zu einer verallgemeinernden Neufassung des Religionsverständnisses gekommen sei, ist zwar nahe liegend, lässt sich aber nicht tatsächlich ausreichend belegen. 7Aber zweifellos kommt es im Humanismus zu Weichenstellungen, ohne die der allgemeine neuzeitliche Religionsbegriff nicht denkbar ist. Dies gilt vor allem für den mit Pathos vorgetragenen Aufbruch zu einem grundlegend neuen Selbstbewusstsein des Menschen.
Verstand sich der Mensch bisher als hineingestellt in eine fest gefügte, Gott gegebene Ordnung, so tritt er nun aus diesem Gefüge hervor und beansprucht die Freiheit zu eigener Gestaltung seiner Wirklichkeit. Es verbreitet sich ein Überdruss an den nur noch mühselig nachzuvollziehenden Entwicklungen der scholastischen Theologie des Spätmittelalters, die sich immer mehr in Detailfragen verlor oder eben ein spekulativ konstruiertes Wirklichkeitsverständnis propagierte, das sich nicht mehr mit den Erfahrungen der Menschen plausibel vermitteln ließ. Im Rahmen der zunehmenden Verrechtlichung der Kirche, die durch die Anzeichen des Humanismus dann noch beschleunigt wurde, verschärfte sich die Betonung der zu bewahrenden Tradition. Das führte zu einer rückwärtsgewandten Formalisierung der Autorität der Kirche, die sich einer rapide anwachsenden Kritik gegenübergestellt sah.
Gegen diese sich abstrahierende Autorität der Kirche kommt es im Rückgriff auf die Antike (deshalb Renaissance), wo die verstandesmäßige Durchdringung der den Menschen betreffenden Fragen an die Stelle der mythischen und symbolischen Erfassungsversuche der Weltwirklichkeit trat (Demokrit: „Der Mensch ein Kosmos im kleinen.“ 8), zu einer selbstbewussten Entdeckung des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit. Während in der Antike die hervorgehobene Anthropologie bis zur ausdrücklichen Kritik des Gottesglaubens reichte (→ § 4,2.1), gestaltete sich ihre Wiederentdeckung im Humanismus in einer teilweise massiven Kirchenkritik.
Im Humanismus wurde vor allem immer wieder der Vorwurf des Götzendienstes |13◄ ►14| erhoben. Petrarca, Boccaccio, Michelangelo, Raffael, Budé, Reuchlin oder Erasmus von Rotterdam heben gegenüber den Gängelungen von Seiten der Kirche die im Menschen liegenden Begabungen hervor. Dabei steht die über die Natur erhobene Freiheit im Zentrum, die den Menschen dazu befähigt und auch autorisiert, die Welt zu gestalten und zu beherrschen. – Das Epochejahr 1492 symbolisiert dabei sowohl den gefeierten Aufbruch (Entdeckung Amerikas, die Konstruktion des ersten Globus von Martin Behaim) als auch die Ambivalenz des für sich selbst in Anspruch genommenen Pathos (Beginn des Kolonialismus, Vertreibung der Juden aus Spanien).
Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494) war von der Idee durchdrungen, dass es eine fundamentale Übereinstimmung zwischen Philosophie und recht verstandener Glaubenslehre gebe. Er befand sich im permanenten Konflikt mit der Kirche, wurde aber kurz vor seinem Tod rehabilitiert.
In das Epochejahr 1492 fällt möglicherweise auch eine wirkungsgeschichtlich bedeutungsvolle Schrift (Datierung bleibt unsicher, wahrscheinlich allerdings erst posthum 1496) des italienischen Humanisten Giovanni Pico della Mirandola mit dem Titel De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen) – „eines der edelsten Vermächtnisse“ der Renaissance. 9Diese Schrift soll als Exemplum der „dignitas-hominis“-Literatur ein Licht auf den Neuaufbruch des Humanismus werfen. Pico verstand sich zutiefst im Einklang mit dem christlichen Bekenntnis, wenn auch nicht mit der offiziellen Lehrmeinung der Kirche. Mit Hilfe des biblischen Motivs der Gottebenbildlichkeit sollte der Mensch auf seine eigenen Füße gestellt werden. Die traditionelle Kosmozentrik der Theologie soll in eine Anthropozentrik überführt werden. Dem Menschen werden bisher kaum geahnte Freiheiten zugesprochen und zwar von Gott selbst, der dem Menschen die Welt in seine Hände gelegt habe. Die traditionell dominierende Lehre der Sünde tritt in den Hintergrund. An ihre Stelle tritt der triumphierende Christus, durch den die menschliche Seele erhoben wird. Nicht die Stimmigkeit mit der überkommenen theologischen Lehre steht im Vordergrund, sondern die praktische Lebendigkeit des Glaubens. All dies sind Elemente, die später von der Aufklärungstheologie aufgenommen und weitergeführt werden. Lassen wir Pico selbst zu Worte kommen:
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