Warum verstärken Staaten ihre Grenzen gegen den Ansturm von Migranten statt eine weltweite gemeinsame Migrationspolitik zu vereinbaren? (
Kap. 8)
Warum halten sich manche Staaten und Gesellschaften an international vereinbarte Menschenrechte, während andere diese universellen Rechte mit Füßen treten? (
Kap. 9)
Warum ist es fast unmöglich, gemeinsam die großen internationalen Umweltprobleme zu lösen? (
Kap. 10)
Theorie
Die Disziplin Internationale Beziehungen will zunächst natürlich direkt Antworten auf diese Fragen geben. Sie geht aber noch einen entscheidenden Schritt weiter: Sie bietet einen Satz verschiedener Theorien an, mit denen die unterschiedlichen Rätsel gelöst werden könnten. Dies schließt auch solche Rätsel ein, die in diesem Buch aus Platzgründen nicht behandelt werden konnten..
Definition
Theorie
Eine Theorie ist ein widerspruchsfreier Satz von Aussagen, mit dem ein interessierendes Phänomen erklärt werden kann. Eine Theorie identifiziert die spezifischen Ursachen, die jene Beobachtungen hervorrufen, die erklärt werden sollen. Sie zeigt außerdem, auf welche Weise verschiedene Ursachen zusammenwirken, um das beobachtete Ergebnis zu erzeugen. Theorien beschreiben, identifizieren Ursache und Wirkung, machen Vorhersagen und bieten Lösungskonzepte an. Zu diesen Zwecken vereinfachen Theorien die extrem komplexe Realität, indem sie den Blick auf das wirklich Wichtige lenken. Es ist deshalb nicht überraschend, dass Theorien nicht für jeden Einzelfall eine Erklärung anbieten können.
1.3 | Der Analyserahmen: Interessen, Interaktionen, Institutionen
In den Internationalen Beziehungen werden ähnliche Arten des analytischen Zugriffs benutzt, die jedoch unterschiedlich bezeichnet werden. Frieden/Lake/Schultz (2012) schlugen die Begriffe Interessen, Interaktionen und Institutionen vor.
Definitionen
Interessen, Interaktionen, Institutionen
Interessenstellen diejenigen Ziele dar, die politische Akteure durch politisches Handeln erreichen wollen. Zu deren Ordnung legen sie häufig Rangfolgen politischer Ergebnisse an, die aus ihren Entscheidungen und den Interaktionen mit anderen Akteuren folgen sollen. Diese Rangordnungen werden Präferenzen genannt.
Unter Interaktionenversteht man die möglichen und tatsächlichen Kombinationen der Entscheidungen von zwei oder mehr beteiligten Akteuren, die zu einem politischen Ergebnis führen.
Institutionensind Regeln im weitesten Sinn, die in einer sozialen Gemeinschaft geteilt werden. Im engeren Sinn umfassen Institutionen auch formale internationale Organisationen. Diese Regeln können explizit niedergeschrieben worden sein oder aber einfach auf Gewohnheit beruhen. Institutionen lenken die Präferenzen der Akteure und beeinflussen ihre Interaktionen, in dem sie diesen eine regelgerechte Richtung geben.
Analytisches Vorgehen
Akteure und Interessen
Prozesse und Interaktionen
Andere Lehrbuchautoren benutzen die grundlegenden Konzepte »Akteure« statt Interessen; »Prozesse« statt Interaktionen und »Strukturen« statt Institutionen. Unabhängig davon, welche begrifflichen Bezeichnungen unterschiedliche Autoren benutzen, ist die gedankliche Vorgehensweise bei der Untersuchung internationaler Beziehungen immer gleich: Im ersten Schritt werden die beteiligten Akteure identifiziert. Dabei wird auch ermittelt, welche Interessen diese Akteure verfolgen und in welche Präferenzfolge sie gebracht werden können. Auf diese Weise erkennt man auch die Entscheidungsmöglichkeiten (auch Optionen genannt), über welche die einzelnen Akteure verfügen. Im zweiten Schritt werden die verschiedenen Optionen der einzelnen Akteure miteinander kombiniert, so dass mögliche (d. h. denkbare) Interaktionen entstehen, die spezifische politische Ergebnisse hervorbringen. Konflikt, Kooperation und Harmonie (Keohane 1984; 1989) sind die drei prinzipiell möglichen Ergebnisse aus Interaktionen (vgl. Abb. 1.1.).
Definitionen
Konflikt, Kooperation, Harmonie
Konfliktesind eine Interessen- oder Willenskonkurrenz zwischen zwei oder mehreren Akteuren.
Von Kooperationspricht man dann, wenn die beteiligten Akteure jeweils eine Politikanpassung vornehmen, die wechselseitig zu einer höheren Kompatibilität der Interessen führt.
Harmoniebesteht, wenn zwischen Akteuren keine Interessens- oder Willenskonkurrenz auftritt oder wenn nicht an Bedingungen gebundene politische Maßnahmen einer Seite zu einer höheren Kompatibilität der Interessen führen (vgl. Abb. 1.1).
Diese denkbaren Interaktionsergebnisse wirken außerdem auf die Entscheidungsauswahl der Akteure zurück, weil Akteure sich bemühen, die Interaktionsergebnisse vorherzusehen (antizipieren) und schon in ihre Präferenzen einfließen lassen, die im ersten Schritt der Untersuchung erfasst wurden. Im dritten Schritt wird analysiert, welchen Institutionen sich die beteiligten Akteure verbunden fühlen bzw. unterworfen sind. Die Institutionen können sich erheblich unterscheiden, je nachdem in welchem Politikfeld die Akteure handeln. In einigen Politikfeldern, z. B. Handelspolitik (
Kap. 5), gibt es engmaschige Regelwerke, denen sich viele Akteure unterworfen haben. Die Welthandelsorganisation (WTO) stellt zusätzlich ein Schiedsgerichtsverfahren bereit für den Fall, dass Regeln gebrochen werden. Dann können Akteure dieses Verfahren nutzen, um die geltenden Normen gegen Regelverletzer durchzusetzen. In anderen Politikfeldern, z. B. Terrorismus oder Bürgerkriegen (
Kap. 3.4), gibt es zwar auch Normen, z. B. das humanitäre Völkerrecht, aber diese sind weit weniger verbindlich oder präzise als im Bereich der Handelspolitik. 1Außerdem gibt es kaum wirksame, etablierte Verfahren, mit denen sie gegen Regelverletzer durchgesetzt werden könnten.
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