Nicht-Einhaltung
Das fünfte und letzte Interaktionsproblem entspringt der Möglichkeit, dass die Konfliktparteien zwar ein Abkommen zur friedlichen Konfliktlösung schließen, aber zumindest eine Seite das Abkommen nicht erfüllt oder einhält. Wenn es nicht gelingt, die Einhaltung geschlossener Abkommen sicherzustellen, steigt die Wahrscheinlichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung. Die Nicht-Einhaltung internationaler Vereinbarungen selbst kann auf unterschiedlichen Ursachen beruhen (
Information kompakt).
Information kompakt
Unter welchen Umständen werden Vereinbarungen nicht eingehalten?
Die Vereinbarung beeinträchtigt die militärischen Fähigkeiten der Beteiligten asymmetrisch. In diesem Fall ist der Anreiz zum Bruch hoch.
Die Vereinbarung ist fragil, wenn sie selbst oder die absehbaren Entwicklungen eine Seite begünstigt, z. B. wenn sie einer Seite die Beschaffung militärischer Fähigkeiten ermöglicht, gegen die die Gegenseite sich nicht wirksam schützen kann. Dieser »Schatten der Zukunft« kann destabilisierend wirken, schafft Anreize, die Vereinbarung später zu brechen.
Die Vereinbarung ist fragil, wenn durch sie erlaubte Technologie einen starken Anreiz zu einem militärischen Erstschlag setzt. Wenn zugelassene Waffensysteme einem Angreifer entscheidende Vorteile gegenüber dem Verteidiger verschaffen, sinkt der Anreiz für beide Seiten, einen verabredeten Frieden oder Waffenstillstand einzuhalten.
Die Vereinbarung ist in der Umsetzung kompliziert und überfordert die Möglichkeiten einer Konfliktpartei.
Einer Konfliktpartei ist es nicht möglich, alle nachgeordneten Akteure wirksam zu kontrollieren und die Einhaltung intern durchzusetzen.
Zwischenfazit
Interaktionsprobleme als Kriegsursachen
Die folgenden Interaktionsprobleme können zu Krieg führen:
Fehleinschätzung der gegnerischen Machtpotentiale, Entschlossenheit und Risikobereitschaft;
Zweideutigkeit oder Unklarheit der ausgesandten Botschaften oder Drohungen;
Selbstfesselung durch ausgestoßene Drohungen, die nicht ohne Glaubwürdigkeitsverlust zurückgenommen werden können;
Zweifel der Konfliktparteien, dass sich die jeweils andere Seite an die getroffene Vereinbarung halten wird;
Nicht-Einhaltung von geschlossenen Vereinbarungen.
3.1.3 | Mangelnde Glaubwürdigkeit und Nicht-Einhaltung als Kriegsursachen
Wenn eine Seite eine getroffene Vereinbarung nicht einhält oder zumindest im Verdacht steht, ein Abkommen nicht einhalten zu wollen oder zu können, spricht man von Glaubwürdigkeits- und Verpflichtungsproblemen, aus denen Kriege entstehen können. Das gegenseitig gegebene Versprechen, in der Zukunft zur Konfliktbeilegung keine Gewalt anzuwenden, muss deshalb auf seine Glaubwürdigkeit geprüft werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn keine neutrale sogenannte dritte Seite bereit oder fähig ist, die Einhaltung des Versprechens wirksam zu garantieren. 20Hierfür sind die zahlreichen Vereinbarungen für Waffenstillstände in Bosnien-Herzegovina ein wichtiges Beispiel. Es gelang den Vereinten Nationen zwar immer wieder, die Konfliktparteien dazu zu bewegen, einem Waffenstillstand zuzustimmen; aber die militärisch schwachen UN-Blauhelmtruppen waren nicht in der Lage, dessen Einhaltung durchzusetzen. Oftmals wurden die Kampfhandlungen nur wenige Stunden nach Abschluss der Vereinbarung fortgesetzt. Es stellt sich also die Frage, unter welchen Bedingungen Konfliktparteien einen hohen Anreiz spüren, getroffene Vereinbarungen zu brechen. Unter solchen Bedingungen sind geschlossene Abkommen dann weder glaubwürdig noch tragfähig.
Zukünftige Machtverteilung
Auf dem Weg zur friedlichen Konfliktregelung muss häufig über Gegenstände verhandelt werden, die sich auf die zukünftige Stärke oder Schwäche der Konfliktparteien auswirken werden. Um bei dieser Art von Verhandlungsgegenständen einvernehmliche Abkommen schließen zu können, müssen die Konfliktparteien ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und gegenseitigem Vertrauen aufbringen, dass die getroffene Vereinbarung sich in der Zukunft nicht schleichend gegen eine Partei richten wird. Oder es muss sichergestellt werden, dass Parteien aus geschlossenen Abkommen keine einseitigen Vorteile ziehen werden. Auch dazu ist hohes wechselseitiges Vertrauen notwendig, das Konfliktparteien nicht problemlos aufbringen werden. Ein geschlossenes Abkommen kann z. B. vorsehen, dass eine Seite auf den Besitz und den Erwerb bestimmter Waffensysteme verzichtet. Im Gegenzug muss die andere Seite Konzessionen versprechen. Was aber passiert mit diesem Geschäft auf Gegenseitigkeit, nachdem die eine Seite ihre Waffen abgegeben oder vernichtet und somit ihren Teil der Vereinbarung erfüllt hat? Was hält die andere Seite noch davon ab, die Vereinbarung zu brechen und ihren Teil des Geschäfts nicht zu erfüllen? Die Befürchtung von Konfliktparteien, dass ein Abkommen sich in der Zukunft nachteilig auf die Möglichkeit auswirkt, die Gegenseite zur Einhaltung ihrer Konzessionsleistung zu zwingen, ist eine sehr häufige Ursache dafür, dass Konflikte nicht friedlich beigelegt werden können (Frieden/Lake/Schultz 2012: 106–110). Insbesondere die friedliche Beendigung von Bürgerkriegen scheitert maßgeblich an diesem großen Problem (
Kap. 3.4.1).
Die Überlegung, wie sich internationale Abkommen oder die wirtschaftliche und technologische Entwicklung auf die Machtverhältnisse von Konfliktparteien auswirken werden, spielt bei der Frage des geeigneten Zeitpunkts für einen Krieg eine weitere wesentliche Rolle. So überlegen Staaten, die sich in Hegemonialkonflikten befinden (
Information kompakt: Hegemonialer Krieg), wann der beste Zeitpunkt für eine kriegerische Auseinandersetzung ist. Nehmen wir wieder das Beispiel USA vs. China. Sehen die USA heute, dass China sich ähnlich dem deutschen Kaiserreich am Ende des 19. Jahrhunderts 21von den wirtschaftlichen und technologischen Trends erheblich mehr profitiert als sie selbst, so geraten sie in die Versuchung, eher früher als später einen Präventivkrieg zu führen (Levy 2013: 583). Für China gilt umgekehrt, einen solchen Krieg möglichst lange hinauszuzögern, um noch lange von den ungleichen Entwicklungstrends profitieren zu können. In diesem konkreten Fall ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Tatsache, dass beide über erhebliche Kernwaffenpotentiale verfügen, eine erhebliche Abschreckungswirkung ausübt (
Kap. 3.3).
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