Abb. 2.3 | Abstraktionsebenen von Theoriedebatten
Quelle: eigene Darstellung.
Identität
Eine weitere wichtige Frage konstruktivistischer Theoriebildung ist, wie Akteure wissen können, was »richtig« oder »falsch«, was »gut« oder »böse« ist. Die Antwort liegt in der Identität der Akteure. Wendt (1999) unterschied zwischen Typ-Identität und Rollen-Identität. Typ-Identität beziehe sich auf typische Merkmale von Staaten als Akteure. Dazu gehöre z. B., ob es sich um Demokratien oder Diktaturen, parlamentarische oder präsidentiale Systeme, theokratische oder säkularisierte Systeme handle. Die Vorstellung von richtigem und falschem Verhalten werde sich maßgeblich an diesen Akteursmerkmalen ausrichten. Rollen-Identitäten seien dagegen das Ergebnis von Beziehungen zu einem anderen Akteur. So empfänden Staaten andere Staaten als Freund, Wettbewerber, Rivale oder sogar als Feind. Dies ermögliche es, dass die USA z. B. fünf Kernsprengköpfe Nordkoreas als äußerst bedrohlich einstuften, die bis zu 200 Nuklearwaffen Israels jedoch für ungefährlich hielten (Finnemore/Sikkink 2001; Wendt 1999).
Sozial konstruierte Interaktion
Angemessenheit
Umfeld und Interesse
Von den rationalistischen Theorieschulen des Realismus, Institutionalismus und Liberalismus unterscheidet sich der Konstruktivismus also wesentlich durch die Auffassung, dass Interessen von Akteuren nicht vereinfachend als vorwiegend ökonomische Kosten-Nutzen-Kalküle aufgefasst werden können. Vielmehr werden Interessen durch die soziale Interaktion zwischen Akteuren erst »konstruiert«. Damit verfügen Akteure über ein weitaus reichhaltigeres Repertoire möglicher Handlungen und Verhaltensformen, weil sie sich nicht nur an Kosten-Nutzen-Kalkülen ausrichten müssen. Wie sie sich entscheiden und verhalten, hängt nicht nur von der Überlegung ab, welche materiellen Folgen ihr Verhalten hat (Logik der Konsequenz), sondern auch davon, ob und in welchem Maß andere Mitglieder der Gemeinschaft dieses Verhalten positiv beurteilen (Logik der Angemessenheit) (March/Olsen 1998).. Verhalten beruht nicht nur auf der Erwartung, Gewinne zu erzielen, sondern auch darauf, was als »richtig« oder »angemessen« betrachtet wird. Während eine Gewinnerwartung individuell und ohne Bezug zum sozialen Umfeld ermittelt werden kann, beruht die Beurteilung von richtigem oder falschem Verhalten auch auf dem Urteil anderer Akteure. Daher gewinnt das soziale Umfeld von Akteuren maßgeblich Einfluss darauf, was als Interesse angenommen wird.
Definition
Die Logiken der Konsequenz und Angemessenheit
Akteure können in ihrem Verhalten entweder der Logik der Konsequenz oder der Logik der Angemessenheit folgen. Die rationalistische Logik der Konsequenz bedeutet, dass Akteure ihr Verhalten an der materialistischen Kosten-Nutzen-Erwartung ausrichten. Die konstruktivistische Logik der Konsequenz bedeutet, dass Akteure ihr Verhalten an sozialen Normen über »richtig» und »falsch« orientieren. Diese Normen gelten in sozialen Gemeinschaften als verbindlich. Es sind solche sozialen Normen, mit denen die Akteure sich identifizieren.
Hinzu kommt, dass auf diese Weise sozial konstruierte Interessen nicht wie wirtschaftliche Gewinnerwartungen ewige Gültigkeit beanspruchen können. Vielmehr erlaubt der stetige Prozess sozialer Interaktion, dass sich Vorstellungen von »richtig« oder »falsch« im Laufe der Zeit ändern oder sich sogar ins Gegenteil verkehren. 15
Dynamik von Wertewandel
Identität und Abgrenzung
Allerdings werden die Vorstellungen davon, was richtig oder angemessen ist, nicht von allen Menschen geteilt. Es gibt kaum universell gültige Werte. Akteure bilden vielmehr Gemeinschaften, die u. a. auf gemeinsamen Werten beruhen, mit denen sich Gemeinschaften jedoch auch gegen andere Gemeinschaften abgrenzen. Zwischen dem »Wir« und den »Anderen« entsteht durch Gemeinschaftsbildung eine unsichtbare Grenze. Sie beruht maßgeblich darauf, dass Mitglieder einer Gemeinschaft nicht nur gemeinsame Werte — Vorstellungen von »gut «und »böse« von »richtig« und »falsch« — teilen, sondern auch darauf, dass sie diese Vorstellungen durch gelebte Praxis immer wieder neu als gemeinschaftsbildend erneuern. Teil dieser gelebten Praxis ist dabei auch die Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften, indem man weder deren Werte noch deren gemeinschaftsbildende Praktiken akzeptiert oder gar selbst praktiziert.
Zivilisationskampf oder …
… globale Ökumene
Diese Selbstidentifikation von Akteuren mit Gemeinschaften fördert das Denken und Handeln nach Vorstellungen von »Freund« und »Feind«. Samuel Huntington zog daraus den Schluss, dass die modernen internationalen Beziehungen in einer Konfrontation von Zivilisationen (d. h. Wertegemeinschaften) mündeten (Huntington 1996) (
Kap. 11). Peter Katzenstein hielt dagegen, dass eine solche Konfrontation sich verhindern ließe, wenn man die alle Gemeinschaften verbindenden Elemente — Menschenrechte und Wohlfahrt — beachte und diese Gemeinschaften in eine globale Ökumene einbette (Katzenstein 2010b). Unter Ökumene versteht Katzenstein ein universales System von Wissen und Praktiken, das zivilisatorische Einheit fördert, statt wie das bestehende kompetitive Staatensystem nur die Abgrenzungen zwischen Zivilisationen zu reproduzieren (Katzenstein 2010b: 12). In dieser Ökumene müssten die verschiedenen Gemeinschaften sich begegnen ( encounter ) und miteinander Verbindungen eingehen ( engagement ).
Völkerrecht
Es ist also durchaus denkbar, dass Staaten als Akteure ihr Verhalten in internationalen Beziehungen an gemeinsamen Normen und Regeln 16ausrichten. Die Vorstellungen von »richtig« und »falsch«, »gut« und »böse« beruhen zu einem guten Teil auf solchen gemeinschaftlichen Normen. Im Bereich der internationalen Beziehungen ist das Völkerrecht das augenfälligste Beispiel. Darunter fallen nicht nur alle schriftlich niedergelegten Übereinkünfte, sondern auch die weitverbreiteten und praktizierten Gewohnheiten im Leben internationaler Beziehungen. Die spannende Frage ist deshalb, wie solche Normen entstehen, wenn es in internationalen Beziehungen keine Autorität gibt, die verbindlich Gesetze verabschieden kann.
Normentstehung
Überredungskunst
In Abbildung 2.4ist vereinfacht dargestellt, wie internationale Normen entstehen (Finnemore/Sikkink 1998). Dieser Prozess kann in drei Phasen eingeteilt werden: In der ersten Phase muss sich ein sogenannter Normunternehmer aufschwingen, die Bildung einer neuen Norm anzustoßen. Zu diesem Zweck wird er auf ein Problem hinweisen und dessen Dringlichkeit unterstreichen. Sein herausragendes Ziel ist, eine öffentliche Resonanz zu erzeugen und möglichst viel zustimmende Unterstützung für seinen Normvorschlag zu sammeln. Dabei wird er häufig auf Widerstand treffen. Dieser Widerstand wird meist auf bestehende Normen gründen. Der Normunternehmer muss deshalb aufzeigen, dass die alten Normen falsch oder illegitim sind und/oder Probleme schaffen. Mit viel Überredungskunst und Überzeugungskraft muss er die Überlegenheit seiner neuen Norm nachweisen, so dass er breite Unterstützung erhält. Dabei kann er auch Strategien wählen, die von gezieltem »unangemessenem« Handeln bis zum organisierten zivilen Widerstand reichen.
Abb. 2.4 | Lebenszyklus von Normen
Quelle: Finnemore/Sikkink (1998, Übersetzung ChT).
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