Lange Zeit wurde in der Sozialen Arbeit und in den Erziehungswissenschaften auf einzelne soziale Kategorien fokussiert. Zum Beispiel kam im Zusammenhang mit Geschlechterfragen das Konzept der Mädchen- und Jungenpädagogik auf, um den spezifischen Bedürfnissen von Mädchen und Jungen Rechnung zu tragen. Ein intersektionaler Zugang verspricht hier eine Blickerweiterung, indem zusätzliche Kategorien einbezogen werden, z.B. Klasse und „Rasse“ hinzukommen. Außerdem verspricht ein intersektionaler Zugang einen differenzierteren Blick, indem Heterogenität innerhalb der einzelnen Kategorien mitgedacht wird. Dabei werden soziale Kategorien als verwoben, als sich gegenseitig beeinflussend konzipiert. Beispielsweise ist die soziale Kategorie „Migrantin“ nicht einfach durch die summierten Benachteiligungen als „Frau“ und als „Migrant_in“ zu erfassen. Zwar verfügen Migrantinnen ebenfalls über einen ungleichen Rechtsstatus, sie können weder abstimmen noch wählen, so lange sie keine Staatsbürgerschaft des Wohnlandes besitzen. Wie alle „Frauen“ sind sie mit erhöhter Wahrscheinlichkeit von Lohnungleichheit betroffen. Doch darüber hinaus gibt es Phänomene, die ausschließlich durch das Zusammenwirken von Kategorien wie „Geschlecht“, „Migration“ und „Religion“ zustande kommen. Zum Beispiel kursieren aktuell in gesellschaftlichen Diskursen spezifische Bilder von Migrantinnen mit muslimischem Hintergrund. Diese lassen sich weder auf ein frauenspezifisches noch ein ausländerspezifisches oder religiöses Problem reduzieren. Musliminnen gelten hierzulande als von ihren Männern unterdrückt und abhängig, als wenig gebildet und integrationsunfähig. Annahmen über das Geschlechterverhältnis verbinden sich in diesen Bildern[9] mit Annahmen über „den Islam“. Die hierbei festgestellte Rückständigkeit bzw. unterstellte Frauenfeindlichkeit ist zentrales Element der kulturellen Konstruktionen: Das Bild der „unterdrückten Muslimin“ kontrastiert das der emanzipierten, modernen und freien „Schweizerin“ oder „Deutschen“. Diese Bilder drücken die aktuell bestehenden Machtverhältnisse aus und legitimieren sie zugleich. Solche Diskurse und damit verbundenen Machtverhältnisse beeinflussen nicht nur die Teilhabemöglichkeiten von Frauen, die in die Kategorie „Muslimin“ fallen, sie prägen auch professionelle Kontexte. Migrantinnen mit muslimischem Hintergrund wie auch Sozialarbeitende stehen vor der Herausforderung, sich zu kursierenden Repräsentationen bewusst oder unbewusst zu positionieren und sich damit selbstreflexiv auseinanderzusetzen. Die intersektionale Analyse, wie im Lehrbuch ausgeführt, kann diesen Reflexionsprozess unterstützen.
Trotz Reflexion und Sensibilisierung bleibt aber auch die Soziale Arbeit in Ungleichheits- und Differenzverhältnisse verstrickt. Soziale Arbeit kommt aufgrund ihres Auftrags oftmals nicht umhin, zu unterscheiden, denn darüber wird etwa definiert, wer unterstützungsberechtigt ist. Durch Unterscheidungen und Normalitätsannahmen kann Soziale Arbeit nicht nur zur Verminderung, sondern je nach Situation und Auftrag auch zur Reproduktion von sozialer Ungleichheit beitragen. Intersektionalität stellt ein Konzept dar, mit dessen Hilfe die jeweils aktuelle Position der Sozialen Arbeit und ihr Beitrag zur Verminderung oder Erhaltung von sozialen Unterscheidungen analysiert werden können. Das Lehrbuch plädiert in diesem Zusammenhang für eine subjektorientierte Soziale Arbeit und für eine selbstbestimmte, kritische und politische Praxis. Eine Soziale Arbeit, die danach fragt, wie warum und mit welchen Konsequenzen Soziale Arbeit in ungleichheitsgenerierende Prozesse involviert ist.
Der Intersektionalitätsansatz geht mit diesem Blick auf Dominanz- und Machtverhältnisse über die reine Beschreibung von Differenzen hinaus und bietet Raum für das kritische Analysieren und Hinterfragen der pädagogischen und sozialarbeiterischen Praxis sowie der gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse. Auf dieser Basis können Verbesserungsmöglichkeiten, etwa im beruflichen Handeln, in Organisationen und in der Politik, ausgelotet werden – und dies jenseits von vereinfachenden Rezepten.
Nadia Baghdadi, FHS St. Gallen im März 2017
1 Durch die Verwendung des Unterstrichs „_“ werden in Anlehnung an Herrmann (2003) Existenzen sichtbar gemacht, die im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit keinen (begrifflich) markierten Platz haben, wie z.B. Intersexuelle oder Transgender-Personen. Die mit diesem Unterstrich markierte Leerstelle verdeutlicht das gesellschaftliche Ordnungsschema der Zweigeschlechtlichkeit und überschreitet es zugleich.
1 [10][11]Einleitung
Das aus der Frauen- und Geschlechterforschung stammende Konzept der Intersektionalität ist auf dem besten Weg, zu einem neuen Paradigma kritischer Gesellschaftstheorie aufzusteigen. Ebenso mehren sich Diskussionen um den Nutzen des Intersektionalitätskonzepts für die Praxis Sozialer Arbeit. Dies veranschaulicht eindrucksvoll die Anzahl der in den letzten zehn Jahren erschienenen Veröffentlichungen und stattgefundenen Konferenzen (z.B. Schrader/von Langsdorff 2014; Giebeler/Rademacher/Schulze 2013; Lutz/Herrera Vivar/Supik 2010; Winker/Degele 2009).
Geschichtlich betrachtet, ist Intersektionalität schon Ende der 1960er-Jahre in den USA im Umfeld eines „Black Feminism“ diskutiert worden. Die Kritiken des „Black Feminism“ richteten sich dahin, dass weiße feministische Theoretikerinnen aus der Mittelschicht ihre eigenen Lebensbedingungen und Bedürfnisse zum „Mainstream“ aller Frauen machten. Bereits damals wurde deutlich, dass ein hierarchisches Denken in Kategorien (Weiß oder Schwarz; Mittel- oder Unterschicht; In- oder Ausländerin usw.) zu kurz greift, um den komplexen Lebenslagen und Problemkonstellationen von Individuen gerecht zu werden. Die schwarze Juristin Kimberlé Crenshaw „reagierte“ 1989 mit ihrem Bild der Straßenkreuzung (Intersection) auf diese verkürzten Sichtweisen. Seither wird in Theorie und Praxis differenziert, vielfältig und kritisch um die Bedeutung sozialer Kategorien wie Klasse, Geschlecht, „Rasse“ 1und Körper sowie deren Auswirkungen auf individuelle Lebenslagen diskutiert.
[12]Die aktuellen Debatten zur „Intersektionalität“ verweisen dementsprechend auf die Verwobenheiten und das Zusammenwirken verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheit sowie deren Zusammenhang zu Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Unter Intersektionalität wird allgemein verstanden, dass soziale Kategorien wie Herkunft, Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, körperliche Beeinträchtigungen etc. nicht isoliert voneinander analysiert werden können, um die Hintergründe sozialer Ungleichheit zu verstehen. Vielmehr geht es um Verwobenheiten und Überkreuzungen mehrerer Kategorien – sprich Intersektionen – mit gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnissen in Wirtschaft, Politik, Kultur etc. Der Fokus des Intersektionalitätskonzepts sind Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse, die soziale Strukturen, Praktiken und Identitäten (re) produzieren.
Mit einer intersektionalen Sichtweise ist es daher möglich, unterschiedliche Formen der sozialen Ungleichheit sowohl in ihren Auswirkungen als auch in ihren Entstehungskontexten weiterführend zu analysieren. Gerade diese Mehrdimensionalität auf Kategorien sozialer Ungleichheit in ihren Formen und Ursachen erweitert die bisherige soziologische Ungleichheitsforschung, indem auch das „So-geworden-Sein“ der Kategorien hinterfragt werden kann. Damit kann sich auch gleichzeitig das fachliche Selbstverständnis bzw. die professionelle „Identität“ der Sozialarbeitenden schärfen.
Insgesamt ist dieser Ansatz nicht nur als erneuertes Paradigma in den Gender und Queer Studies wahrzunehmen. Konsequent gedacht, ermöglicht er vielmehr gerade für die Praxis Sozialer Arbeit einen differenzierteren Blick auf individuelle Lebenslagen und Problemkonstellationen – ohne diese dabei zu individualisieren. Denn durch die analytische Verwobenheit sozialer Kategorien mit gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen enthält das Konzept immer auch ein gesellschaftskritisches Moment. Zudem bietet dieser Ansatz die Möglichkeit, in interdisziplinären Zusammenhängen zu denken. Durch das Begreifen der Verwobenheiten unterschiedlicher Strukturen und Kategorien kann so der Blickwinkel auf gesellschaftliche Lebensverhältnisse geschärft werden. Denn ein eindimensionaler Fokus auf nur eine Kategorie wie z.B. Herkunft oder körperliche Beeinträchtigung bedeutet einen begrenzten Zugriff auf gesellschaftliche [13]Bedeutungen sowie Denkformen. Damit wird die Lebenswirklichkeit der Subjekte reduziert, die sich in ihrer sozialen Praxis auf die in den gesellschaftlichen Bedeutungen enthaltenen Handlungsmöglichkeiten beziehen. Einfach gesagt, bedeutet dies: Durch die Minimierung von Alternativen bereits in der Analyse wird auch die (sozialarbeiterische) Handlungsfähigkeit eingeschränkt.
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