Der rechtshistorische Blick zeigt abermals die Voraussetzungen für verschiedene Prozessformen auf. Eine weitgehend schriftlose (orale) Gesellschaft ohne studierte Juristen gelangt hierbei zu ganz anderen Lösungen als eine von gelehrten Berufsrichtern geprägte Rechtsordnung. Die mittelalterliche Laiengerichtsbarkeit beruht weitgehend auf Öffentlichkeit und Mündlichkeit. Strafprozess und Zivilverfahren waren lange Zeit nicht getrennt. Ziel des Verfahrens war es auch nicht, abstrakt-generelle Rechtsnormen auf einen Sachverhalt anzuwenden. Die Subsumtion ist vielmehr das methodische Rüstzeug des studierten Juristen. Im ungelehrten Prozess ging es [<<17] demgegenüber darum, den gestörten Frieden wiederherzustellen. Deswegen erlangten Eide der Parteien eine besondere Bedeutung. Als Leumundseide zählten sie zu den sog. irrationalen Beweismitteln, die für die Entscheidungsfindung oftmals wichtiger wurden als die Sachverhaltsaufklärung. Der gelehrte Prozess bewirkte hier die entscheidenden Veränderungen, bezeichnenderweise zunächst im Strafrecht. Kleriker, denen bestimmte Amtsvergehen angelastet wurden, durften sich nicht mehr durch Reinigungseid selbst entlasten. Das Lehrbuch legt daher besonderen Wert auf den Wandel des Prozessrechts, der sich mit der Rezeption des gelehrten Rechts vollzog. Man meint damit traditionell die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung des Rechts, auch die inhaltliche Anlehnung and römische und kanonische Vorbilder. Das Wort Rezeption und die früher teilweise damit verbundenen Vorstellungen sind inzwischen streitig geworden. Aber die Zunahme römisch-kanonischen Rechtsdenkens und das Universitätsstudium haben doch unübersehbar ihre Spuren hinterlassen. Das gilt in besonderer Weise für die Prozessrechtsgeschichte. Die Verschriftlichung des Verfahrens, feste Vorgaben für den Schlagabtausch zwischen den Parteien und ihren Anwälten, der Trend, hinter verschlossenen Türen zu entscheiden, die Möglichkeit, Urteile anzufechten – dies sind die entscheidenden Punkte, auf die es zu achten gilt. Untrennbar verbunden damit ist die Frage, ob und wie Gerichte ihre Entscheidungen gegenüber den Parteien, der Öffentlichkeit oder der Wissenschaft begründeten.
1.2.4 Auswirkungen der Leitfragen
Je stärker die Darstellung den Leitfragen folgt, auch wenn sie weitere Verfeinerungen vornimmt, desto deutlicher treten ganze Bereiche der Rechtsgeschichte in den Hintergrund. Die Rechtswissenschaft mit ihren Lehren spielt eine eher untergeordnete Rolle, ebenso über längere Phasen, vor allem in der älteren Zeit, die normativen Rechtsquellen. Das Lehrbuch wirft Schlaglichter auf die Geschichte der Rechtspraxis und bietet damit nur einen Ausschnitt aus einer allgemeinen Rechtsgeschichte. Vollständigkeit ist insoweit nicht angestrebt, auch nicht in quellenkundlicher Hinsicht. Die Zuspitzung soll es dagegen ermöglichen, die wesentlichen Linien der Prozessrechtsgeschichte zu erkennen, einzelne Stationen der Geschichte miteinander zu verknüpfen und auf diese Weise ein tieferes Verständnis für die Grundbedingungen der jeweiligen Rechts- und Gerichtsordnung zu schärfen. Damit erhalten Studierende zugleich eine Vorlage, um sich auch in fremde Zeiten und Gebiete der Rechtsgeschichte einzuarbeiten. Das Lehrbuch möchte insofern ausdrücklich zur weiteren Quellenlektüre und zum Selbststudium ermutigen. [<<18]
Ein Lehrbuch zur Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts gibt es bisher nicht, geschweige denn eine umfassende Gesamtdarstellung. Die älteren Werke zur Deutschen Rechtsgeschichte enthalten häufig Kapitel über „Gericht und Rechtsgang“, oftmals aus einer romantischen oder national-rechtsstaatlichen Perspektive. Die Quellenkenntnis von Autoren wie Heinrich Brunner, Richard Schröder oder Eberhard Freiherr von Künßberg beeindruckt noch heute. Das Gesamtbild, das ihre Bücher vermitteln, ist freilich seit Jahrzehnten überholt. Gerade die Sichtweise auf die frühen Phasen der Rechtsgeschichte, auf die sog. germanische und fränkische Zeit bis weit ins Mittelalter hinein, hat sich deutlich gewandelt. Aber selbst jüngere Lehrbücher wie das von Heinrich Mitteis 1949 begründete auflagenstarke Becksche Kurzlehrbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte haben bis zur letzten Neubearbeitung 1992 durch Heinz Lieberich unbeirrt am überkommenen germanistischen Blick auf die Vergangenheit festgehalten.
Eine echte Zäsur bedeutete deshalb das ganz eigenständige und neuartige Lehrbuch von Karl Kroeschell, 1972 begründet und nach und nach auf drei Bände erweitert. Den überlieferten Titel „Deutsche Rechtsgeschichte“ behielt dieses Werk bei, verzichtete aber bewusst auf große Linien und ein konstruiertes Gesamtbild. In kleinen Abschnitten kommen einzelne Episoden aus der Rechtsgeschichte, aber auch aus der Forschungsdiskussion daher und führen den Leser detailgenau in ausgewählte Bereiche ein. Zahlreiche abgedruckte Quellen regen zum Selbststudium an, sind freilich mit dem Text des Lehrbuchs kaum verknüpft. Die Prozessrechtsgeschichte nimmt bei Kroeschell einen breiten Raum ein. Gerade für die ältere Zeit hat er damit Maßstäbe gesetzt, hinter die neuere Darstellungen nicht zurückfallen dürfen. Andererseits ermöglichen es die oben angesprochenen Leitfragen, inhaltlich deutlich andere Schwerpunkte als Kroeschell zu setzen, Quellen umfassender einzubinden und stärker ausdrückliche Vergleiche zwischen den Epochen anzustreben. Überdies sind die Schilderungen des Kroeschellschen Lehrbuchs erheblich knapper und oft nur skizzenhaft.
Den ausdrücklichen Anspruch, die Geschichte der Gerichtsbarkeit lehrbuchhaft darzustellen, haben nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nur zwei Bücher erhoben. Im Erscheinungsjahr nur hauchdünn voneinander getrennt, erschienen 1954 eine „Geschichte der Gerichtsverfassung“ von Eduard Kern und 1953 die „Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500“ von Erich Döhring. [<<19]
Kerns Darstellung ist ihrem Anspruch nach ein klassisches Kurzlehrbuch. Es geht nicht um Forschungsfragen oder Literaturdiskussion, sondern um die gedrängte Vermittlung historischen Sachwissens. Der Bogen ist weit gespannt von der germanischen Frühzeit bis zum Nationalsozialismus. Aber nicht nur der methodisch veraltete rein normengeschichtliche Zugriff auf die einheimische Rechtsgeschichte stört aus heutiger Sicht. Viel gewichtiger ist ein anderer Einwand. Kerns Lehrbuch gibt sich überdeutlich als Einführung in das geltende Recht aus, gewissermaßen als erster Teil seines zweiten Lehrbuchs zum geltenden Gerichtsverfassungsrecht. Deswegen stehen die neuere Zeit und die Moderne ganz im Mittelpunkt. Die ältere Rechtsgeschichte muss sich mit wenigen Seiten begnügen, und genau sie beruhen auch nicht auf eigenen Arbeiten des Verfassers, sondern auf den noch älteren klassischen Großlehrbüchern. Kern war kein Rechtshistoriker, und das merkt man seinem Buch an. Für die neuere Gerichtsverfassung bietet sein Werk freilich viel Stoff, an den sich anknüpfen lässt.
Ein zweiter Gesichtspunkt mag nicht entscheidend sein, zeigt jedoch, wie sich der Zugriff auf die Geschichte in den vergangenen sechs Jahrzehnten geändert hat. Für Kern geht es schwerpunktmäßig um die Schilderung einer normativen Rechtslage. Gerichtsordnungen und Prozessgesetze bilden das Rückgrat des Buches. Die Praxis tritt dahinter zurück. Allgemeinhistoriker werfen genau dies der älteren von Juristen betriebenen Rechtsgeschichte gern vor. Der Blick auf die Normen soll den Zugriff auf die historische Wirklichkeit verstellen. Doch hier ist zu differenzieren. Die Existenz einer Norm, ihr Erlass, ihr Inhalt und auch ihre zeitgenössische Auslegung sind als solches genauso historische Tatsachen wie ein Mordfall, eine Folterung oder ein Gerichtsurteil. Je für sich handelt es sich um Gegenstände, die einer rechtshistorischen Erforschung bedürfen. Es darf nur nicht der Eindruck entstehen, die Kenntnis historischer Gesetze eröffne die Sicht auf die Rechtspraxis. Sein und Sollen bleiben auch in der Prozessrechtsgeschichte getrennt. Auf der anderen Seite sind übermäßige Vorbehalte von Rechtshistorikern gegen eine Beschäftigung mit der Geschichte der Rechtspraxis unbegründet. Es gibt kein methodisches Gebot, zunächst eine wie auch immer verstandene Rechtslage zu erforschen, bevor man sich der zeitgenössischen Praxis zuwenden darf. Hier unterscheiden sich schlichtweg persönliche Interessen und auch die jeweiligen Quellengrundlagen. Aber genau deswegen kann ein Lehrbuch wie das von Kern eine moderne Prozessrechtsgeschichte nicht ersetzen.
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