»Nein, du kennst ihn nicht; es war eine andere finstere Schenke.«
»Wieso, eine andere! Du weißt wohl viel! Ich kann dir genug Zeugen bringen . . .«
»Zeugen willst du mir bringen! Wer bist du denn?«
»Wer ich bin? Gar oft habe ich dich geprügelt, prahle aber damit nicht, und du fragst mich noch, wer ich bin!«
»Du hast mich geprügelt! Einer, der mich prügeln wird, ist noch nicht geboren, und wer mich geprügelt hat, der liegt tief in der Erde.«
»Ach, du Aussatz von Bendery!«
»Die sibirische Pest soll dich treffen!«
»Ein türkischer Säbel soll mit dir reden! . . .«
Und das Fluchen ging los.
»Na, na, na! Da machen sie schon Radau!« schrie man ringsum. »Sie haben nicht verstanden, in der Freiheit zu leben, nun sind sie froh, daß sie hier das Zuchthausbrot fressen können . . .«
Man bringt sie sofort zur Ruhe. Das Fluchen und »Zungendreschen« ist gestattet. Es ist ja eine Art Zerstreuung für alle. Aber Schlägereien werden nicht immer erlaubt, nur in den ausschließlichsten Fällen geraten sich die Gegner in die Haare. Eine Schlägerei wird dem Major gemeldet; es beginnt eine Untersuchung, der Major selbst kommt gefahren, mit einem Wort, allen drohen Unannehmlichkeiten; darum wird eine Schlägerei nicht zugelassen. Auch die Gegner selbst schimpfen mehr zur Unterhaltung, zur Übung im Stil. Oft betrügen sie sich selbst: sie beginnen mit furchtbarer Wut, man glaubt, daß sie sich gleich aufeinander stürzen werden; aber keine Spur: wenn sie einen gewissen Punkt erreicht haben, gehen sie auseinander. Dies alles setzte mich anfangs in Erstaunen. Ich habe soeben ansichtlich ein Beispiel der gewöhnlichsten Zuchthausunterhaltung angeführt. Ich konnte mir anfangs nicht vorstellen, wie man bloß zum Vergnügen fluchen und darin einen Zeitvertreib, eine angenehme Übung sehen kann. Übrigens ist auch die Ruhmsucht nicht außer acht zu lassen. Ein Künstler im Fluchen genoß immer allgemeine Achtung. Nur daß man ihm nicht applaudierte wie einem Schauspieler.
Schon am Vorabend hatte ich bemerkt, daß man mich scheel ansah.
Ich fing einige düstere Blicke auf. Andere Arrestanten suchten dagegen in meiner Nähe zu bleiben, da sie bei mir Geld vermuteten. Sie begannen sich sofort bei mir einzuschmeicheln: sie unterwiesen mich, wie man die neuen Fesseln trägt; sie verschafften mir, natürlich für Geld, einen Kasten mit einem Schloß zur Verwahrung der mir bereits gelieferten Kommißsachen und meiner Privatwäsche, die ich ins Zuchthaus mitgebracht hatte. Schon am nächsten Tage stahlen sie mir den Kasten und vertranken ihn. Einer der Diebe war mir später außerordentlich ergeben, obwohl er nicht aufhörte, mich bei jeder passenden Gelegenheit zu bestehlen. Er machte es ohne Bedenken, fast unbewußt, gleichsam aus Pflicht, und es war unmöglich, ihm zu zürnen.
Unter anderem brachten sie mir bei, daß man seinen eigenen Tee haben müsse und daß ich mir eine Teekanne anschaffen solle; vorläufig verschafften sie mir leihweise eine fremde und empfahlen mir einen Koch, von dem sie sagten, daß er mir für dreißig Kopeken im Monat beliebige Sachen kochen würde, wenn ich den Wunsch hätte, mich selbst zu beköstigen und mir eigene Lebensmittel zu kaufen . . . Selbstverständlich liehen sie von mir Geld, und ein jeder von ihnen kam an diesem ersten Tage an die dreimal zu mir, um mich um Geld zu bitten.
Ehemalige Adlige werden im Zuchthause überhaupt scheel und wenig wohlwollend angesehen.
Obwohl sie aller ihrer Standesrechte beraubt und den anderen Arrestanten vollkommen gleichgestellt sind, werden sie von diesen niemals als ihre Genossen angesehen. Das entspringt nicht einmal einem bewußten Vorurteil, sondern geschieht aufrichtig und unbewußt. Sie hielten uns mit Überzeugung noch immer für Adlige, obwohl sie uns selbst gerne mit unserer Degradierung neckten.
»Nein, jetzt ist's genug, warte nur! Pjotr pflegte früher stolz durch Moskau zu fahren, und jetzt muß er Stricke drehen!« und ähnliche Liebenswürdigkeiten.
Sie sahen mit Befriedigung unseren Leiden zu, die wir vor ihnen zu verheimlichen suchten. Besonders viel hatten wir von ihnen in der ersten Zeit bei der Arbeit auszustehen, weil wir nicht so viel Kraft hatten wie sie und ihnen nur ungenügend helfen konnten. Es gibt nichts Schwereres, als das Vertrauen des Volkes (und besonders dieses Volkes) und seine Liebe zu erwerben.
Im Zuchthause befanden sich mehrere Arrestanten adliger Abstammung. Erstens an die fünf Polen. Von diesen werde ich später einmal besonders sprechen. Die Zuchthäusler konnten die Polen nicht ausstehen, sogar weniger als die Russen adliger Abstammung. Die Polen (ich spreche nur von den politischen Verbrechern) behandelten sie aber mit einer raffinierten, verletzenden Höflichkeit, waren äußerst verschlossen und konnten ihren Ekel vor den übrigen Arrestanten nicht verhehlen, diese aber sahen es wohl und zahlten es mit der gleichen Münze heim.
Ich mußte fast zwei Jahre im Zuchthause verbringen, bevor ich mir die Zuneigung einiger Zuchthäusler erwarb. Aber die Mehrzahl von ihnen gewann mich schließlich lieb und erkannte mich als einen »guten Menschen«.
Von russischen Adligen waren außer mir noch vier da. Einer von ihnen war ein gemeines und niederträchtiges, furchtbar verdorbenes Geschöpf, ein Spion und Anzeiger aus Beruf. Ich hatte über ihn schon vor meiner Ankunft im Zuchthause gehört und gleich am ersten Tage jeden Verkehr mit ihm abgebrochen. Der andere war der Vatermörder, von dem ich in diesen Aufzeichnungen schon gesprochen habe. Der dritte war Akim Akimytsch; selten habe ich einen solchen Sonderling, wie er es war, gesehen. Er hat sich meinem Gedächtnisse scharf eingeprägt. Er war groß, hager, schwachsinnig, furchtbar ungebildet, ein außergewöhnlicher Räsonneur und in allen Dingen peinlich genau wie ein Deutscher. Die Zuchthhäusler lachten über ihn, aber viele von ihnen fürchteten, sich mit ihm einzulassen wegen seines streitsüchtigen, empfindlichen und unberechenbaren Charakters. Er stellte sich gleich bei seinem Eintritt ins Zuchthaus auf einen vertrauten Fuß mit den übrigen Zuchthäuslern und schimpfte und raufte sogar mit ihnen. Seine Ehrlichkeit war phänomenal. Wenn er nur irgendeine Ungerechtigkeit bemerkte, so mischte er sich sofort in die Sache ein, selbst wenn sie ihn in keiner Weise anging. Naiv war er bis zur äußersten Grenze: wenn er z. B. mit den Arrestanten zankte, warf er ihnen zuweilen vor, daß sie Diebe seien, und ermahnte sie ernsthaft, nicht mehr zu stehlen. Er hatte als Fähnrich im Kaukasus gedient. Ich schloß mich ihm gleich am ersten Tage an, und er berichtete mir sofort seine ganze Geschichte. Er hatte seine Laufbahn im Kaukasus als Junker in einem Infanterieregiment begonnen, hatte lange gedient, war endlich zum Offizier befördert und als höchster Vorgesetzter nach einer kleinen Festung versetzt worden. Einer der »pazifizierten« Fürsten in der Nachbarschaft steckte ihm die Festung in Brand und machte auf sie einen nächtlichen Überfall, der ihm jedoch mißlang. Akim Akimytsch wandte nun eine List an und tat so, als wüßte er nicht, wer der Übeltäter gewesen sei. Man schrieb den Überfall den nicht pazifizierten Eingeborenen zu, Akim Akimytsch lud aber den Fürsten nach einem Monat in aller Freundschaft zu sich zu Gast. Jener kam, ohne etwas zu ahnen. Akim Akimytsch stellte nun seine Truppen in Reih und Glied auf, bezichtigte den Fürsten öffentlich des Verbrechens und hielt ihm vor, daß es eine Schande sei, Festungen in Brand zu stecken. Er erteilte ihm eine ausführliche Lektion, wie ein pazifizierter Fürst sich in Zukunft zu verhalten habe, und ließ ihn zum Schluß füsilieren, worüber er selbst unverzüglich einen genauen Bericht an die vorgesetzte Behörde erstattete. Deswegen kam er vors Gericht und wurde zum Tode verurteilt; das Urteil wurde gemildert, und so kam er als Sträfling zweiter Kategorie nach Sibirien zur Abbüßung einer zwölfjährigen Festungsstrafe. Er war sich vollkommen bewußt, daß er ungesetzlich gehandelt hatte; er sagte mir, daß er es schon vor der Füsilierung des Fürsten gewußt habe, auch daß ein Pazifizierter nur nach dem Gesetz verurteilt werden dürfe; obwohl er aber dies wußte, konnte er seine Schuld unmöglich richtig erfassen.
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