Die Arrestanten hörten einmal nachts, wie er im Schlafe schrie: »Halt ihn, halt! Hau ihm den Kopf ab, den Kopf, den Kopf! . . .«
Fast alle Arrestanten sprachen und phantasierten im Schlafe. Am häufigsten kamen ihnen dabei Schimpfworte, Diebesausdrücke, Messer und Beile über die Lippen. »Wir sind ein geschlagenes Volk,« pflegten sie zusagen, »unser ganzes Inneres ist zerschlagen, darum schreien wir auch des Nachts.«
Die staatliche Zwangsarbeit war keine Beschäftigung, sondern eine Pflicht: der Arrestant erledigte die ihm aufgegebene Arbeit oder absolvierte die vorgeschriebenen Arbeitsstunden und kam wieder ins Zuchthaus. Die Arbeit betrachtete man mit Haß. Ohne seine eigene Privatbeschäftigung, der er mit ganzer Seele und allen seinen Gedanken ergeben war, hätte ein Mensch im Zuchthause überhaupt nicht leben können. Wie hätte auch dieses ganze verhältnismäßig zivilisierte Volk, das zügellos gelebt hatte und nach dem Leben lechzte, das gewaltsam von der Gesellschaft und vom normalen Leben losgerissen und hier zu einem Haufen zusammengeworfen war, sich normal und regelrecht, nach seinem Willen und seiner Lust einleben können! Schon infolge des Müßigganges allein müßten hier solche verbrecherische Neigungen zur Entwicklung kommen, von denen sie früher keine Ahnung hatten. Ohne Arbeit und ohne ein gesetzlich erlaubtes, normales Eigentum kann der Mensch nicht leben und sinkt zu einem Tier herab. Darum hatte ein jeder von den Zuchthäuslern infolge eines natürlichen Bedürfnisses und eines gewissen Selbsterhaltungstriebs sein eigenes Handwerk und seine eigene Beschäftigung. Der lange Sommertag war fast ganz mit Zwangsarbeit ausgefüllt, und in der kurzen Sommernacht konnte man kaum ausschlafen. Aber im Winter mußte der Arrestant nach den Vorschriften mit Einbruch der Dunkelheit im Zuchthause eingesperrt sein. Was sollte er nun in den langen, langweiligen Stunden des Winterabends treiben? Darum verwandelte sich fast jede Kaserne trotz des Verbotes in eine große Werkstätte. Arbeit und Beschäftigung an sich waren nicht verboten, streng verboten war aber der Besitz von Werkzeugen jeder Art, und ohne Werkzeuge war natürlich jede Arbeit unmöglich. Man arbeitete aber heimlich, und die Obrigkeit schien manchmal ein Auge zuzudrücken. Viele Arrestanten kamen ins Zuchthaus, ohne irgendwelche Kenntnisse, lernten aber von den andern und gingen später als tüchtige Handwerker in die Freiheit. Es gab hier Schuster, Schuhmacher, Schneider, Tischler, Schlosser, Graveure und Vergolder. Ein Jude, Issaj Bumstein, war Juwelier und zugleich Wucherer. Alle arbeiteten und verdienten ein paar Kopeken. Die Aufträge kamen aus der Stadt. Geld bedeutet doch geprägte Freiheit und hat darum für einen jeder Freiheit beraubten Menschen den zehnfachen Wert. Wenn nur einige Münzen in seiner Tasche klimpern, so ist er schon halb getröstet, selbst wenn er keine Möglichkeit hat, das Geld auszugeben. Geld kann man aber immer und überall ausgeben, um so mehr, als die verbotene Frucht doppelt so süß ist. Im Zuchthause konnte man sich auch Branntwein verschaffen. Pfeifen waren strengstens verboten, und doch rauchten alle. Das Geld und der Tabak schützten vor Skorbut und anderen Krankheiten. Die Arbeit schützte aber vor Verbrechen: ohne Arbeit würden die Arrestanten einander aufgefressen haben wie in einem Glase eingeschlossene Spinnen. Trotzdem war aber die Arbeit wie auch der Besitz von Geld verboten. Oft wurden in der Nacht plötzliche Durchsuchungen vorgenommen, wobei man alles Verbotene konfiszierte; wie sorgfältig die Arrestanten das Geld auch verwahrten, es fiel doch oft den Schergen in die Hände. Das ist zum Teil der Grund dafür, daß man das Geld nicht sparte, sondern schnell vertrank; darum gab es auch im Zuchthause Branntwein. Nach jeder Durchsuchung verlor der Schuldige nicht nur seinen ganzen Besitz, sondern wurde gewöhnlich auch empfindlich bestraft. Aber nach jeder Durchsuchung wurden die Mängel wieder ersetzt, sofort neue Sachen angeschafft, und alles war wieder beim alten. Die Obrigkeit wußte es wohl, und die Sträflinge murrten auch nicht über die Strafen, obwohl dieses Leben dem von Ansiedlern auf dem Vesuv glich.
Wer kein Handwerk verstand, trieb andere Geschäfte. Es gab recht originelle Gewerbsarten. Manche lebten z. B. vom Zwischenhandel allein, wobei zuweilen solche Gegenstände zum Verkauf kamen, die außerhalb des Zuchthauses kaum jemand gekauft oder verkauft oder überhaupt für Gegenstände gehalten hätte. Aber die Zuchthausbevölkerung war sehr arm und außerordentlich betriebsam. Der letzte Lumpen hatte seinen Wert und fand irgendeine Verwendung. Infolge dieser Armut hatte das Geld im Zuchthause einen ganz anderen Wert als in der Freiheit. Eine große und komplizierte Arbeit wurde mit wenigen Kupfermünzen bezahlt. Viele betrieben mit Erfolg Wucher. Ein Arrestant, der sich ruiniert hatte, brachte seine letzten Sachen dem Wucherer und bekam von ihm einige Kupfermünzen gegen ungeheure Zinsen. Wenn er die Sachen zum Termin nicht einlöste, so wurden sie unverzüglich und unbarmherzig verkauft; der Wucher stand in solcher Blüte, daß selbst staatliches Eigentum als Pfand angenommen wurde, wie die dem Zuchthause gehörenden Wäschestücke, Stiefel und ähnliche Gegenstände, die der Arrestant jeden Augenblick brauchte. Aber bei solchen Pfändern nahm die Sache manchmal eine andere, übrigens nicht ganz unerwartete Wendung: der Arrestant, der etwas von diesen Sachen versetzt und dafür Geld bekommen hatte, ging unverzüglich ohne weiteres zum ältesten Unteroffizier, dem nächsten Vorgesetzten im Zuchthause und meldete von der Verpfändung des Staatseigentums, welches dem Wucherer sofort, selbst ohne Meldung an die höhere Behörde, abgenommen wurde. Es ist bezeichnend, daß sich so etwas zuweilen ohne jeden Streit abspielte: der Wucherer gab die Sachen schweigend mit mürrischer Miene heraus und schien diese Wendung sogar erwartet zu haben. Vielleicht mußte er sich eingestehen, daß er an Stelle des Verpfänders ebenso gehandelt hätte. Wenn er daher zuweilen nachträglich schimpfte, so tat er es ohne jede Bosheit, sondern eher um einer Pflicht zu genügen.
Im allgemeinen bestahl man hier einander entsetzlich. Fast jeder besaß seinen Kasten mit einem Schloß zur Verwahrung der ihm von der Verwaltung gelieferten Sachen. Das war gestattet, aber die Koffer boten keinen Schutz. Man kann sich wohl denken, was es für geschickte Diebe im Zuchthause gab. Mir stahl einmal ein Arrestant, ein mir aufrichtig ergebener Mensch (ich sage das ohne Übertreibung), meine Bibel, das einzige Buch, das man im Zuchthause besitzen durfte; er selbst gestand es mir am gleichen Tage, doch nicht aus Reue, sondern aus Mitleid mit mir, weil ich sie lange suchte. Es gab auch Schenkwirte, die mit Branntwein handelten und sich schnell bereicherten. Über diesen Handelszweig will ich später ausführlicher sprechen: er ist recht bemerkenswert. Es gab im Zuchthaus viele ehemalige Schmuggler, und es ist darum nicht zu verwundern, daß trotz aller Durchsuchungen und der strengen Bewachung ins Zuchthaus Branntwein eingeschmuggelt wurde. Der Schmuggel ist übrigens seinem Charakter nach ein ganz eigentümliches Verbrechen. Wird man mir z. B. glauben wollen, daß das Geld und der Gewinn beim Schmuggler zuweilen eine untergeordnete Rolle spielen und erst in zweiter Linie in Betracht kommen? Und doch ist es manchmal so. Der Schmuggler arbeitet aus Leidenschaft, aus Beruf. Er ist zum Teil Dichter. Er riskiert alles, setzt sich furchtbaren Gefahren aus, wendet List an, ist erfinderisch und zieht sich oft aus der Schlinge; manchmal handelt er aus einer Art Intuition. Diese Leidenschaft ist ebenso stark wie die des Kartenspiels. Ich kannte im Zuchthaus einen Arrestanten, einen riesenhaften Kerl, der so sanft, still und bescheiden war, daß man sich gar nicht vorstellen konnte, wie er ins Zuchthaus geraten sein mochte. Er war dermaßen gutmütig und verträglich, daß er während seines ganzen Aufenthaltes im Zuchthaus keinen einzigen Streit gehabt hat. Er stammte aber von der westlichen Grenze des Reichs, war wegen Schmuggels ins Zuchthaus geraten und konnte sich natürlich auch hier nicht beherrschen und verlegte sich auf den Branntweinschmuggel. Wie oft wurde er deswegen bestraft und wie sehr fürchtete er die Ruten! Der Branntweinschmuggel brachte ihm übrigens sehr wenig ein. Am Branntwein bereicherte sich nur der Ausschankbesitzer. Der Kauz liebte die Kunst um der Kunst willen. Er war wie ein Weib zum Weinen aufgelegt und schwor nach jeder Bestrafung, nicht wieder Schmuggel zu treiben. Mit großem Mut beherrschte er sich zuweilen einen ganzen Monat lang, hielt es aber dann doch nicht aus . . . Dank solchen Leuten ging der Branntwein im Zuchthause nie aus . . .
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