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Außerdem genießen alle Personen mit Unionsbürgerschaft in allen Staaten außerhalb der EU den diplomatischen und konsularischen Schutzaller Mitgliedstaaten. Voraussetzung dafür ist, dass der EU-Staat, dessen Staatsangehörigkeit man besitzt, im betreffenden Drittstaat keine diplomatische bzw. konsularische Vertretung hat (Art. 20 II UA 1 S. 2, lit. c, 23 AEUV). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass nicht alle EU-Staaten zu allen Staaten außerhalb der EU diplomatische Beziehungen unterhalten. Um hier eine Schutzlücke zu vermeiden, soll sich ein Unionsbürger dann an eine Botschaft oder ein Konsulat eines anderen EU-Staates wenden können. Für deutsche Staatsangehörige hat dieser Aspekt der Unionsbürgerschaft freilich geringe praktische Relevanz, da Deutschland mit nahezu allen Staaten der Welt diplomatische Beziehungen unterhält.[21]
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Schließlich gehört zur Unionsbürgerschaft das Recht, sich in verschiedenen Formen unmittelbar an EU-Einrichtungen zu wenden und Antworten einzufordern(Art. 20 II UA 1 S. 2, lit. d, 24 AEUV). Dies gilt vor allem für die Beschwerde an die Kommission, Petitionen an das Europäische Parlament (Art. 227 AEUV) und Eingaben an den Europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 228 AEUV). Ebenso kann man sich auch in jeder beliebigen der 24 EU-Vertragssprachen[22] an jedes andere EU-Organ oder eine beratende Einrichtung wenden.
5. Abgrenzung zum Europarat
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Europa ist ja kein juristischer, sondern ein geografischer Begriff. Deshalb haben sich im Laufe der Jahre auch andere Organisationen mit europäischen Bezügen und Bezeichnungen herausgebildet, die rechtlich von der Europäischen Union zu unterscheiden sind – ungeachtet vielfältiger wechselseitiger Verbindungen. Mit Abstand am wichtigsten ist hierbei der Europarat[23] (nicht zu verwechseln mit dem „Europäischen Rat“ der EU).[24] Dabei handelt es sich um eine internationale Organisation mit eigener völkerrechtlicher Grundlage, der alle 27 EU-Staaten (aber jeder für sich) sowie 20 zusätzliche Staaten – z.B. Großbritannien, Island, Norwegen, Russland, die Schweiz und die Türkei – angehören. Sechs weitere Staaten haben einen Beobachterstatus, darunter Israel, Kanada und die USA.
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Zu den Organen des Europarateszählen ein Ministerkomitee (nicht zu verwechseln mit dem Ministerrat der EU), ein Generalsekretär, eine Parlamentarische Versammlung (nicht zu verwechseln mit dem EP) und ein Kongress der Gemeinden und Regionen (nicht zu verwechseln mit dem Ausschuss der Regionen der EU). Die aber vermutlich bekannteste Institution des Europarates ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte– EGMR – in Straßburg (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof – EuGH – in Luxemburg, der zu den EU-Organen gehört).
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Die wesentlichen Unterschiede lassen sich wie folgt gegenüberstellen:
Abbildung 7: Europäische Union und Europarat
|
Europäische Union |
Europarat |
Mitglieder |
27 |
47, darunter alle EU-Staaten, aber auch Russland, die Türkei, die Ukraine, die Schweiz u.a.; außerdem mit Beobachterstatus USA, Israel, Kanada u.a. |
Einwohner |
448 Mio. |
835 Mio. |
Themen |
Binnenmarkt und zahlreiche andere Politikfelder |
Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat |
Integrationsgrad |
hoch |
gering |
Haushaltsvolumen 2020 |
168,7 Mrd. € |
0,496 Mrd. € |
Organe |
– Europ. Rat, (Minister-) Rat, |
– Ministerkomitee, |
|
– Europ. Parlament, |
– Parlamentarische Versammlung, |
|
– EU-Kommission, |
– Generalsekretär, |
|
– Europ. Gerichtshof (EuGH), |
– Europ. Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), |
|
– Ausschuss der Regionen |
– Kongress der Gemeinden und Regionen |
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Das zentrale rechtliche Dokument des Europarates, das alle Mitgliedstaaten unterzeichnet haben, ist die Europäische Menschenrechtskonvention(EMRK). Dabei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag zum Schutz der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaats. Die EMRK bildet den Maßstab für die Rechtsprechung des EGMR, der über deren Einhaltung in den Europarat-Staaten wacht. In Umsetzung von Art. 6 II EUV hat die EU ihren Beitritt zur EMRK in Verhandlungen mit dem Europarat und seinen 47 Mitgliedstaaten vorangetrieben. Nach Abschluss dieses Verfahrens würde die EMRK in der EU nicht nur für die 27 EU-Staaten kraft deren Mitgliedschaft im Europarat, sondern auch für die EU selbst gelten. Allerdings hat der EuGH – wohl aus Gründen der eigenen Kompetenzsicherung (bezüglich des Auslegungsmonopols beim Unionsrecht) gegenüber einer drohenden Kontrolle durch den EGMR – den Entwurf des ausgehandelten Beitrittsabkommens als unionsrechtswidrig beanstandet und damit den EMRK-Beitritt der EU zumindest auf mittlere Sicht verhindert.[25]
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Verständnisfragen:
1. |
Mit welchem Vertrag wurde wann die Europäische Union gegründet und wie war sie (zunächst) rechtlich konstruiert? ( Rn. 37 f.) |
2. |
Erläutern Sie die Vorläufer-Struktur zur Europäischen Union. ( Rn. 35 f.) |
3. |
Wie hat sich die Europäische Grundrechtecharta entwickelt? ( Rn. 40, 45) |
4. |
Wodurch wurden die EU-Mitgliedstaaten im Vertrag von Lissabon gestärkt? ( Rn. 47) |
5. |
Wie ist die EU rechtlich einzuordnen? ( Rn. 52–54) |
6. |
Welche Besonderheiten sind mit der Unionsbürgerschaft verbunden und wie verhält sich diese zu den bisherigen nationalen Staatsangehörigkeiten? ( Rn. 55–60) |
[1]
Belgien, Niederlande, Luxemburg.
[2]
Nähere Informationen zum Maastricht-Vertrag finden Sie unter Piepenschneider , in Bergmann (Hg.), Handlexikon, S. 664-666.
[3]
Näher zu diesen beiden Säulen: Eichholz , Europarecht, Rn. 14-18; der hier (und bis heute) verwendete Begriff PJZS kam erst mit dem Amsterdam-Vertrag, während zuvor noch ZBJI (Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres) verwendet wurde.
[4]
Nähere Erläuterungen zum dreistufig angelegten Entstehungsprozess der Wirtschafts- und Währungsunion sowie der sog. „Maastricht-Kriterien“ finden Sie bei Eichholz , Europarecht, Rn. 19-21.
[5]
Streinz , Europarecht, Rn. 54 f.
[6]
Und weitere stehen vor der Tür: Offiziell anerkannte Beitrittskandidaten sind Albanien, Montenegro, Nord Mazedonien, Serbien und die Türkei; den Status „potenzieller Beitrittskandidaten“ genießen Bosnien und Herzegowina sowie das Kosovo, vgl. https://ec.europa.eu/info/policies/eu-enlargement_de(3.11.2020).
[7]
Die Ablehnung erfolgte im französischen Referendum am 29.5.2005 mit 54,8 % und in den Niederlanden am 1.6.2005 mit 61,5 %, vgl. Eichholz , Europarecht, Rn. 45; Fischer/Fetzer , Europarecht, Rn. 34; der zweite Rückschlag war der Brexit, s.u. Rn. 49 f.
[8]
Fischer/Fetzer , Europarecht, Rn. 35; Streinz , Europarecht, Rn. 61.
[9]
Die EGKS war bereits 2002 nach ihrer von vornherein auf 50 Jahre angelegten Lebensdauer aufgelöst worden; die EAG besteht neben der EU bis heute fort.
[10]
Streinz , Europarecht, Rn. 63.
[11]
Mit diesem Begriff ist die Kompetenz gemeint, über die Verteilung von Kompetenzen zu entscheiden. Auf nationaler Ebene liegt dieses Recht beim verfassungsändernden (Bundes-)Gesetzgeber gem. Art. 79 GG.
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