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Die Eventualaufrechnung kann den Prozess deutlich verzögern, etwa weil eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich ist. Daher gibt es die Möglichkeit, ein Vorbehaltsurteil (§ 302 ZPO) zu erlassen, sobald die Hauptforderung zur Entscheidung reif ist.[44] Der Bestand des Vorbehaltsurteils ist dann vom Ergebnis des Nachverfahrens (über die Gegenforderung) abhängig.
2. Teil Erkenntnisverfahren› E. Prozessverhalten des Beklagten zur Klage› V. Die Widerklage
V. Die Widerklage
1. Privilegiertes Angriffsmittel
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„Angriff ist die beste Verteidigung!“ Dieser Satz hat auch für das Zivilprozessrecht Gültigkeit. Der Beklagte muss sich nicht auf passives Verteidigen beschränken, sondern kann durch eine sog. Widerklage, die in § 33 ZPO(unzureichend) geregelt ist, zum Gegenangriff starten.
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Als Widerklage wird eine Klage bezeichnet, die der Beklagte (!) in einem Verfahren gegen den Kläger erhebt. Die Widerklage ist eine eigenständige Klage. Der Beklagte wird zum Widerkläger, der Kläger zum Widerbeklagten. Da die Widerklage „echte Klage“ und kein bloßes Angriffs- und Verteidigungsmittel (§ 282 Abs. 1 ZPO) ist, gelten die Präklusionsvorschriften (§ 296 ZPO) nicht. Die Widerklage kann daher bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erhoben werden, auch mündlich (§ 261 Abs. 2 ZPO). In diesem Fall bedarf sie nicht der Form des § 253 Abs. 2 ZPO. Prozessökonomisch ist eine Widerklage oft sinnvoll, da über einen zusammengehörigen Sachverhalt entschieden wird, so dass nur eine Beweiserhebung nötig ist. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass für die Widerklage ein zusätzlicher besonderer Gerichtsstand existiert (§ 33 ZPO). Ein Gerichtskostenvorschuss muss nicht entrichtet werden (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 GKG). Auch Kostenvorteile bezüglich der Gebühren sind zu nennen.
Beispiel
Thomas, der Freund von Mona, kauft über das Internet ein gebrauchtes Motorrad von dem Studenten Martin. Den Kaufpreis bezahlt Thomas nicht. Martin verklagt ihn vor dem AG Köln auf Kaufpreiszahlung in Höhe von 4000 €. Thomas verteidigt sich gegen die Klage mit der Begründung, dass das Motorrad einen Sachmangel habe (§ 434 BGB), da der Tacho manipuliert worden sei und er daher vom Kaufvertrag zurücktrete. Thomas hatte vor der Klageerhebung einen Sachverständigen beauftragt, der die Manipulation bestätigte. Für dieses Gutachten musste Thomas 2000 € zahlen. Thomas kann nun überlegen, ob er gegen den Verkäufer Martin Widerklage auf Erstattung der Gutachterkosten (§ 439 Abs. 2 BGB) in Höhe von 2000 € erhebt oder ob er diesen Anspruch erst nach Abschluss des Prozesses gesondert einklagt. In jedem Fall muss Thomas auf die Verjährung seiner Ansprüche achten.
Betrachtet man das Prozessziel von Thomas, könnte er die Gutachterkosten auch zur (Eventual-)Aufrechnung stellen. Würde das Gericht die Kaufpreiszahlungsklage des Verkäufers als unzulässig oder unbegründet ansehen, würde über die Gegenforderungen von Thomas gar nicht entschieden. Mit einer Widerklage zwingt Thomas das Gericht also zu einer Entscheidung über seine Forderung. Häufig wird in der Praxis folgende Strategie eingesetzt: Der Beklagte beantragt Klageabweisung, hilfsweise rechnet er mit der Gegenforderung auf (= für den Fall, dass das Gericht den Anspruch des Klägers für begründet hält) und hilfsweise erhebt er Widerklage (für den Fall, dass das Gericht den Anspruch für unbegründet hält).[45] Damit erreicht Thomas in jedem Fall, dass über seine Gegenforderung verbindlich entschieden wird. Derartige Hilfswiderklagen sind zulässig, weil es sich um innerprozessuale Bedingungen handelt.
2. Zulässigkeitsvoraussetzungen
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Da die Widerklage eine „echte“ Klage ist, müssen, wie bei jeder Klage, die allgemeinen Prozessvoraussetzungen vorliegen, wie Parteifähigkeit, Prozessfähigkeit, Prozessführungsbefugnis, Postulationsfähigkeit, keine entgegenstehende Rechtskraft, örtliche und sachliche Zuständigkeit des Gerichts. Da die Widerklage eine eigenständige Klage ist, darf sie nicht lediglich die Negation der Klage sein. Sie muss einen anderen Streitgegenstand als die Klage haben.[46] Andernfalls stünde der Einwand der anderweitigen Rechtshängigkeit (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) entgegen (z.B. wenn Thomas Widerklage auf Feststellung erhebt, dass ein Kaufpreisanspruch des Verkäufers nicht besteht).
Hinweis
Für die Widerklage gelten zusätzlich einige Besonderheiten. Diese „Spezialpunkte“ müssen in der Zulässigkeitsprüfung einer Widerklage in jedem Fall thematisiert werden. Dies sind die sachliche Zuständigkeit, die örtliche Zuständigkeit (besonderer Gerichtsstand der Widerklage), die Rechtshängigkeit der Hauptsache, dieselbe Prozessart, die Parteiidentität (mit vertauschten Rollen) und die Konnexität als zusätzliche Prozessvoraussetzung.
a) Sachliche Zuständigkeit
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Die sachliche Zuständigkeit folgt den allgemeinen Regeln (§§ 23, 71 GVG). Würde Thomas im obigen Beispiel Widerklage in Höhe von 2000 € erheben, wären an sich insgesamt 6000 € „im Streit“. Wichtig ist aber, dass die Streitwertevon Klage und Widerklage nicht addiertwerden (§ 5 Hs. 2 ZPO). Der Streitwert der Klage und der Streitwert der Widerklage werden getrennt berechnet. Daher ist das Amtsgericht für beide Klagen sachlich zuständig (§ 23 Nr. 1 GVG). Sowohl die Klage des Verkäufers (4000 €) als auch die Widerklage von Thomas (2000 €) liegen unter der Streitwertgrenze von 5000 €. Damit ist die sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts für Klage und Widerklage gegeben.
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Die Vorschrift des § 506 ZPO haben Sie bereits kennen gelernt. Wenn Ihnen der Zusammenhang nicht mehr in Erinnerung ist, lesen Sie nochmals die Ausführungen zur sachlichen Zuständigkeit ( Rn. 89).
Allerdings muss im amtsgerichtlichen Verfahren die Vorschrift des § 506 ZPO beachtet werden. Erhebt der Beklagte eine Widerklage, welche die Zuständigkeitsgrenze des Amtsgerichts für sich überschreitet (z.B. Widerklage auf 10 000 €), kann das Amtsgericht nicht mehr entscheiden. Es muss nun auf die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts hinweisen und nach entsprechendem Antrag einer Partei Klage und Widerklage dorthin verweisen (§ 506 ZPO). Der umgekehrte Fall (Zuständigkeit des LG für die Klage, Zuständigkeit des Amtsgerichts für die Widerklage) ist gesetzlich nicht geregelt. Einigkeit besteht, dass das LG für beide Klagen zuständig ist.[47] Man kann dies mit einem Umkehrschluss aus § 506 ZPO begründen oder mit dem Zweck des § 33 ZPO (was zusammen gehört, soll auch zusammen verhandelt werden).
b) Örtliche Zuständigkeit und besonderer Gerichtsstand der Widerklage
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Grundsätzlich wird die örtliche Zuständigkeit nach §§ 12 ff. ZPO ermittelt. Dies gilt auch für die Widerklage. Der Widerkläger muss den Widerbeklagten (= Kläger) also grundsätzlich an dessen Wohnsitz verklagen.
Beispiel
Hat Martin als Verkäufer des Motorrads in Köln seinen Wohnsitz, ist das AG Köln nach den allgemeinen Regeln (§§ 12, 13 ZPO) für die Widerklage von Thomas zuständig.
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Schwierig wird es, wenn der Verkäufer seinen Wohnsitz in einem anderen Gerichtsbezirk hat. Hier hilft der besondere Gerichtsstandder Widerklage ( § 33 ZPO ). Nach § 33 ZPO kann die Widerklage bei dem Gericht erhoben werden, wo die Klage erhoben ist. Allerdings macht § 33 ZPO eine kleine Einschränkung. Voraussetzung für dieses Privileg ist, dass der Gegenstand der Widerklage mit dem der Klage in Zusammenhang (= Konnexität)steht. Wann Konnexität besteht, ist streitig. Die überwiegende Ansicht fordert einen rechtlichen Zusammenhang, der allerdings weit verstanden wird. Ein Zusammenhang ist etwa gegeben, wenn die Forderungen von Kläger und Beklagtem auf ein einheitliches Rechtsverhältnis (z.B. Vertrag) zurückzuführen sind oder auf einem einheitlichen Lebensverhältnis beruhen.[48]
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