Um zum Park zu gelangen, hatten sie einen großen Teil des 19. Arrondissements durchquert, wo es einige der trostlosesten Ecken von Paris gab, die alle um die Goldmedaille für den Niedergang der Wohnviertel in Frankreich konkurrieren könnten. Und dieser Niedergang war ein gutes Geschäft, der Quadratmeterpreis war hier höher als in den sonnigen Gegenden im Süden. Svetlana hatte den Eindruck, bei sich zu Hause zu sein. Das lag an den Gebäuden, den Geschäften, am hässlichen und dreckigen Anblick, der sie an die Stadt erinnerten, aus der sie kam. Es waren in keinster Weise touristische Viertel, in denen die Besucher lange verweilten, um sie zu besichtigen. Hier durchquerten sie einen Bereich, der das Gegenteil von dem Paris war, das sich auf den Postkarten verkaufte. Und dennoch verbargen sich an diesen Orten die größten menschlichen Werte, weit entfernt von der Falschheit und Affektiertheit der Bourgeoisie.
Als sie im Park angekommen waren, waren sie zur Insel Belvédère gegangen, zum Sybillen Tempel. An diesem Tag hatte man dort eine Seilrutsche aufgebaut. Sie spannte sich über den See und erreichte 30 Meter tiefer wieder festen Boden. Ein Verein machte Jugendliche mit dem Nervenkitzel beim Klettern in einem Hochseilgarten vertraut. Nach der Rutschpartie lud man sie ein, die anderen Aktivitäten eines Erlebnisparks im Pariser Umland zu entdecken. Eine Art Marketingvorführung, in Zusammenarbeit mit der Pariser Stadtverwaltung bei der auch alles ausprobiert werden konnte. Franck und Svetlana hatten einigen Jugendlichen beim Sprung ins Leere zugeschaut. Auch wenn die Anlage auf den ersten Blick beeindruckend war, war die Geschwindigkeit letztendlich nicht so hoch. Die Landung war sanft, jemand nahm sie in Empfang. Sie hatten hier einige Fotos gemacht. Franck verewigte Svetlana erneut aus verschiedenen Blickwinkeln.
Als sie das Panorama betrachteten, hatten sie das ganze Ausmaß der Strecke ermessen können, die sie zurückgelegt hatten. Sacré-Cœur erschien weit entfernt und klein. Als er sich den Fotoapparat ausgeliehen hatte, hatten sich ihre Körper leicht berührt, absichtlich und sanft. Da man auf diesem Felsen nichts anderes machen konnte, als den Jugendlichen dabei zuzusehen, wie sie sich an ein Seil hängten, waren sie in Richtung Hängebrücke aufgebrochen. Auch hier stellte sich der Verein vor. Dieses Mal bot er Kindern eine Einführung in den Klettersport an. Es war eher ein Abseilen, das sie 8 Meter nach unten beförderte. Auf das Geländer gestützt hatten sie sich hier lange aufgehalten. Die Zeit war bei ihrer unerschöpflichen Unterhaltung wie im Flug vergangen.
Svetlana hatte ihm von ihrer Familie erzählt. Ihre Mutter kam aus der Ukraine und ihr Vater war gebürtiger Russe. Ihre Schwester fehlte ihr sehr. Sie vertrauten sich die kleinsten Kleinigkeiten an, wie zwei sehr gute Freundinnen. Svetlana lebte 200 Kilometer von ihrer Familie entfernt. Sie besuchte sie nur in den Schulferien. Die restliche Zeit wohnte sie in einem Studentenwohnheim in der Innenstadt von Irkutsk, das 10 Minuten von ihrer Schule entfernt war. Einer ihrer Kunstlehrer war ein junger Franzose von nicht mal 30 Jahren, den sie sehr attraktiv fand. Es hätte sie nicht gestört, wenn sich zwischen ihnen etwas in einem anderen Kontext abgespielt hätte. Franck nahm an, dass sie ihm diese Information anvertraute, um die Richtung anzudeuten, in der es weitergehen sollte. Es war an ihm das Verhalten eines Mannes an den Tag zu legen, der eine Frau begehrte. Auf jeden Fall hatten sie sich amüsiert. Ihre Hände streiften sich immer häufiger.
Franck hatte seine Hand sanft auf Svetlanas Hand gelegt, die neben seiner lag. Sie hatte sich nicht dagegen gewehrt, was Francks Überlegung bestätigte. Von diesem Moment an war ihm bewusst, dass sich ihr Treffen weiterentwickeln würde. Die junge Frau war genauso durcheinander wie er. Er durfte jetzt nicht nachlassen und musste im richtigen Moment seine Kühnheit unter Beweis stellen, um die nächste Grenze zu überschreiten.
Nachdem sie sehr lange an dieser Stelle verweilt hatten, hatten sie beschlossen, ihren Spaziergang fortzusetzen. Francks rechter Zeigefinger hatte Svetlana zurückgehalten, die bereits dabei war umzukehren. Im Umdrehen hatte er ihren linken Zeigefinger wie mit einem Haken erwischt. Sie konnten sich beide jederzeit davon lösen. Die Berührung fühlte sich sehr schön an. Sie wussten beide, dass sie nicht nach einem Abenteuer suchten, sondern nach einer Verbindung ihrer Herzen. Die Fingergliedern ineinander verschlungenen, hatte Franck ihr vorgeschlagen, die Brücke ganz zu überqueren, um an einen Wasserfall zu kommen. Svetlana hatte als einzige Antwort darauf die Augen weit aufgerissen. Danach war sie sofort nah an ihn heran gerutscht. Mit ruhiger Stimme hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie diesen Ort gerne sehen würde. Franck hatte mit seiner linken Hand nach Svetlanas linker Handgegriffen, um sie anschließend in seine rechte zu legen. 10 Finger schlangen sich ineinander. Sie hüllten sich in ein angenehmes Schweigen. Von dieser Berührung ausgehend breitete sich eine intensive Wärme aus, die Franck fröhlich stimmte. Die zarte Hand einer Frau zu spüren, die man sehnlichst begehrt, ist ein wahrer Moment der Befreiung. Diese Geste ermutigt den Mann jedoch noch mehr, sein Verführungsspiel fortzusetzen. Das ist der Augenblick, in dem man weiß, dass etwas wichtiges passiert ist und dass sich daraus etwas ernsthafteres entwickeln wird. Es ist, als würde man einen Pakt schließen oder einen Vertrag unterzeichnen. Vor dieser Übereinkunft waren sie nur zwei fremde Schatten. Von nun an verkörperten sie zwei miteinander verbundene Seelen, die beide auf den Beginn einer Liebe hofften.
Nachdem sie am Wasserfall angekommen waren, hatte Franck Svetlana vorgeschlagen noch einmal Fotos zu machen. Sie hatte mit einem Kopfnicken zugestimmt. Ihre Augen strahlten wie tausend Sterne auf einmal. Wie ein kleines Mädchen war sie vorausgelaufen, um sich vor das Objektiv zu stellen, war zurückgekommen, um ihre Tasche zu Francks Füssen abzustellen, um dann ihre Pose wieder einzunehmen. Als sie die Spielerei mit den Aufnahmen beendet hatten, gab Franck den Fotoapparat an seine Besitzerin zurück. Dafür hatte sie ihm erneut ihre Hand anvertraut. Sie hatten dieses unschuldige und harmlose Vergnügen an zwei weiteren Stellen im Park wiederholt, was dazu geführt hatte, dass eine ganze Reihe von Wünschen geweckt worden war.
Während sie in einen abgeschiedenen Teil des Parks vordrangen, der auf den kleinen Gürtel von Paris schaute und in dem sich einige Obstbäume versteckten, waren sie mehreren sich küssenden Pärchen begegnet. Sie hatten peinlich berührt von der Situation gelächelt. Sie beobachteten sich gegenseitig… hatten beide den Kopf gesenkt. In ihrem tiefsten Inneren warteten sie nur darauf, das gleiche zu tun. Die Durchquerung dieses Bereiches hätte sich als der geeignete Moment für diese Zärtlichkeit herausstellen können, nur dass Franck, blockiert durch seine unbestreitbare Schüchternheit, nicht den richtigen Augenblick dafür gefunden hatte. Er wollte nichts erzwingen und hoffte, dass es sich spontan ergeben würde.
Der Abend war angebrochen und es wurde so langsam kalt. Auf einem einsamen Schotterweg hatte Franck Svetlana gefragt, ob sie Lust hätte mit ihm gemeinsam zu Abend zu essen. Überrascht von diesem unerwarteten Vorschlag, hatte sie mit der Antwort gezögert. „War sie vorzeigbar?“, „Welche Absichten verfolgte dieser junge Mann?“ Eine peinliche Unentschlossenheit war entstanden. Dieses Zögern hatte Franck erstaunt. Er bekam Zweifel. Hatte er sich zu überstürzt etwas zu weit vorgewagt und damit riskiert, das ganze Gefüge zu zerstören? Er hatte erwartet, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken ja sagen würde. Was hielt sie also zurück? Sie, die seine Hand den ganzen Nachmittag nicht losgelassen hatte!
„Einverstanden“ hatte ihm Svetlana plötzlich geantwortet. Ein einzelnes Wort, das nur mit großen Schwierigkeiten aus ihrem Mund gekommen war, als wäre es eine radikale Entscheidung für den Rest ihres Lebens…
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