Manu Bodin
roman
Übersetzt aus dem Französischen von Sabine Stork
„Aber sich zu verlieben, ist ja auch eine ganz schön unvernünftige Angelegenheit. Ganz plötzlich aus heiterem Himmel kann es dich packen. Schon morgen.“
Haruki Murakami
Für dich…
1 Kapitel 1
2 Kapitel 2
3 Kapitel 3
4 Kapitel 4
5 Kapitel 5
6 Kapitel 6
7 Kapitel 7
8 Dank
9 Andere Werke vom Autor
10 Über das Buch
11 Copyright
An diesem Morgen, in diesem banalen Moment des Abschieds, der ihm wie ein Lebewohl vorkam und ihm deshalb schicksalhaft erschien, hatte er gedachte, dass er sie das letzte Mal umarmte, ihre Hand das letzte Mal hielt, sie das letzte Mal nach Hause begleitete. Bevor sie hinter dem Zaun des Wohnheims verschwand, in dem sie untergekommen war, hatte sie ihm eine Kusshand zu gehaucht. Überrascht hatte er mit der gleichen Eleganz darauf geantwortet, voller Begeisterung, wie zwei Liebende, die den Gedanken nicht ertragen konnten, sich für den Tag zu trennen. Sein Blick verschwamm, als er sich der dramatischen Situation bewusst wurde: Die Frau, die er liebte, würde sich von ihm trennen. Er vermutete, dass er sie nie wiedersehen würde. Bemerkte sie seine Traurigkeit? Ihm war es lieber gewesen, sich das Gegenteil vorzustellen. Was war ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass er von dieser gedrückten Stimmung überwältigt worden war? Zwischen ihnen deutete offiziell noch nichts auf eine Trennung hin. Außer dass er sie in der Luft wahrnahm, wie den Geruch eines starken Giftes, gegen das er nicht ankämpfen konnte. Er schwieg und hoffte sich zu irren. So oder so schien ihm das Spiel aus zu sein. Mit gesenktem Kopf und langsamen Schritten hatte er den Asphalt überquert, sich vom Gebäude entfernt, hatte angenommen, dass er dieses Viertel vergessen müsste. Er drehte sich um und ging in Richtung seines armseligen 1-Zimmer-Appartements davon. Dort erwartete ihn das Gefühl der Unvollständigkeit genährt von latenter Einsamkeit und neuen Tränen als einziger Gesellschaft. Durch sie hatte er sich an das Verhalten einer aufmerksamen und aufrichtigen Partnerin gewöhnt, die sich regelmäßig meldete, wobei sie darauf achtete, ihren Partner nicht durch eine tägliche Überwachung zu erdrücken. Er selbst ließ ihr ihre Freiheiten. Von einem Tag auf den anderen versuchte nun ein neuer Unterton den vorherigen zu ersetzen, was ihn in einen emotionalen Abgrund stürzte. Als er spürte, wie ihm seine Gefühle brutal aus dem Herzen gerissen wurden, hatte er einen intensiven Schmerz, einem Phantomschmerz gleich, empfunden. Fast zwei Wochen hatte sie sich rar gemacht, hatte er sie vermisst. Er hatte mehrfach versucht sie zu erreichen. Vergeblich. SMS, Anrufe oder sogar E-Mails, es kam keine Reaktion auf seine Versuche Kontakt mit ihr aufzunehmen. Keine Antwort, keine Nachricht; nur Missachtung. Er verstand es nicht, fragte sich, was passiert sein könnte, das die Flucht seiner Angebeteten ausgelöst haben mochte. Umso mehr, da sie geplant hatten am kommenden Wochenende gemeinsam nach Venedig zu fahren. Ihre Liebesgeschichte hatte traumhaft schön begonnen. In ihrer, seit einigen Wochen andauernde Romanze, schien sie nichts trennen zu wollen. Es gab nur ein schicksalhaftes Datum, das sie seit Beginn ihrer Beziehung kannten.
Sie waren sich in der Pariser Metro begegnet; überfüllte Gänge, Menschen in Eile. Inmitten des Ameisenhaufens stand eine verloren wirkende junge Frau und sah in alle Richtungen. Der Bahnhof litt unter umfangreichen Modernisierungsarbeiten. Die Hinweisschilder fehlten. Nur die Pendler kannten ihren Weg, wie perfekt programmierte Roboter im Zusammenspiel miteinander. Er war genauso verärgert wie die junge Frau. Er fand sich nicht zurecht. Dabei war er die langen Tunnel gewöhnt. Da er weder Auto noch Zweirad besaß und ihm Busse zu vollgestopft und zu kompliziert waren, um sich zurecht zu finden, hatte er sich angewöhnt, diesen Maulwurfsbau für die weiter von seinem Wohnort entfernten Ziele zu benutzen. Wenn das Wetter schön war und er sich an einen Ort begeben musste, der ihm nah genug erschien, zögerte er wegen der nachweislich horrenden Fahrscheinpreise nicht, die Strecke zu Fuß zu gehen. Blieben noch die Leihfahrräder von Velib‘, die auf bewundernswerte Weise in ganz Paris verteilt waren; aber auch hier hatte ihn das Abonnementangebot nicht überzeugen können. Er hatte schon versucht, ein Gefährt aus seiner Verankerung herauszuziehen, aber es bestand darauf, daran kleben zu bleiben. Allerdings fand er das Konzept interessant, nur dass die Logik des kapitalistischen Gewinns jede ökologische Initiative zerstörte. Eine verzweifelte und zwiespältige Erkenntnis traf ihn, als er feststellte, dass man in unserem Wirtschaftssystem nicht anders konnte, als in stillschweigender Übereinkunft unserer Machtlosigkeit, eine politische Entscheidung, die den Bürgern zu Gute kommen sollte und die von privaten, geldgierigen Unternehmen umgesetzt wurde, fast schon auf Knien zu akzeptieren.
Die junge Frau, die sah, wie er sich um sich selbst drehte, hatte es gewagt, sich ihm zu nähern und ihn gefragt, ob er auch die Linie 14 suchte. Dem war so. Er musste mit dieser Linie bis zum Bahnhof Saint-Lazare fahren, um dann von dort aus in einen Vorortzug umzusteigen. Er war mit Stéphanie, einer befreundeten Malerin verabredet. Sie hingegen war in die andere Richtung, nach Bercy, unterwegs. Rein optisch war sie ganz nach seinem Geschmack. Sie sprach kein perfektes Französisch. Ihr Akzent verriet ihre osteuropäischen Wurzeln. Sie hatte ihm mitgeteilt, dass sie Svetlana hieß und aus Russland kam. Im Gegenzug hatte er ihr seinen Vornamen verraten. „Franck“ hatte er geantwortet, ohne dabei zu versuchen, sie mit weiteren Informationen über seine Person zu beeindrucken oder ihr mit aufdringlichen Fragen auf die Nerven zu gehen.
Svetlana hatte es immer vorgezogen, von ihren Freunden Sveta genannt zu werden. Sie war seit drei Wochen in Paris, um hier zu arbeiten. Sie nutze ihren Aufenthalt aber auch, um während ihrer Freizeit verschiedene europäische Länder zu bereisen. Ihre Arbeit bestand darin, in einem Geschäft in der Galerie Lafayette Handtaschen zu verkaufen. Die Rolle der Verkäuferin in einer Boutique interessierte sie wenig. Sie langweilte sich sogar sehr oft. Das war die einzige Möglichkeit, die sie gefunden hatte, um ihren Traum, nach Frankreich zu reisen, zu verwirklichen. Auf diese Weise hatte sie ein Visum für drei Monate bekommen können. An diesem Tag war sie auf dem Weg zu einer ihrer Kolleginnen, die aus der Ukraine stammte und die aus dem gleichen Grund nach Frankreich gekommen war wie sie. Sie hatten einen Spaziergang durch die Stadt geplant, bei dem sie auch shoppen gehen wollten.
Svetlana hatte Franck vorgeschlagen, auszusuchen welche Richtung sie einschlagen sollten. Sie hatte ihm anvertraut, dass ihr Sternzeichen sie tagtäglich beeinflusste und nicht immer zum Besten. Waage: das Symbol für alle Arten der Instabilität. Sie konnte sich oft nur schwer entscheiden, vor allem in wichtigen Augenblicken. Ein Ja am Morgen konnte sich am Abend in ein Nein verwandeln. Sie hatte ihm Einzelheiten ihrer Persönlichkeit enthüllt, ohne sich auch nur die geringsten Gedanken darüber zu machen, ob es eine gute Idee war, sich einem Fremden gegenüber so zu verhalten. Sie hatte sich spontan, natürlich benommen, hatte sich in Gegenwart dieses Mannes wohl gefühlt. Sie hatte auf Anhieb eine positive Aura und ein beruhigendes Gefühl gespürt, als sie diesen Mann bemerkte, der genauso verloren war wie sie.
Ohne es zu wollen, hatte Franck die Art Mann verkörpert, der die Initiative ergreift. Der Weg, den sie eingeschlagen hatten, hatte sich als der richtige für Svetlana herausgestellt. Sie hatte sich bei ihm bedankt und wollte sich schon auf den Weg machen. Während er seine Schüchternheit an das hinterste Ende seines Temperaments verdrängte, hatte Franck sie gefragt, ob sie Lust hätte, an einem der nächsten Tage in seiner Begleitung Paris zu erkunden, so könnte sie in den Genuss eines privaten Reiseführers kommen. Überrascht und zögernd hatte sie ihn gemustert und sich nach den Absichten dieses Mannes gefragt. War er ein seriöser Mensch oder ein Abenteurer? Vielleicht ein Schnorrer?
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