Elgar und ich kauerten hinter der Remise am Ende der Kiesauffahrt. Die Amerikaner würden von irgendwo in der Nähe der Remise kommen, doch wir wussten nicht, von welcher Seite des Gebäudes aus sie auftauchen würden. Gewöhnlich war einer der Jungen, die die Guten spielten, der Lockvogel, derjenige, der hinter einem Baum an der Seite der Remise hervorkommen und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu einer weit entfernten Stelle des Zaunes laufen würde, während der andere Junge wartete, bis beide Sowjets abgezogen wären. Dann würde er versuchen, zu entkommen. Elgar und ich lugten hinter der Remise hervor und warteten auf die beiden amerikanischen Spione. Unsere Daumen und Zeigefinger formten wir zu Ringen und hielten sie als Ferngläser vor unsere Augen.
»Hey«, raunte Elgar mir zu.
»Ja«, flüsterte ich zurück.
»Meine Mom hat mir gesagt, ich soll dich mal fragen, wie du dich als Negro fühlst.«
»Keine Ahnung«, sagte ich nicht mehr ganz so leise.
»Warum denn?«
»Ziemlich gut … schätze ich.«
»Da kommen sie!«
Oskar und Liam hatten sich in Bewegung gesetzt! Wir erwischten Liam, während es Oskar gelang, sich bis zum Checkpoint Charlie im Garten der McDermotts durchzuschlagen.
Das nächste Mal, als ich Elgar sah, teilte er mir mit, dass seiner Mutter meine Antwort nicht gefiel. Ich war besorgt. Ich fragte ihn, ob sie wütend sei. Nein, sagte er. Ich fragte ihn, ob er sich ganz sicher sei. Sicher, ich bin ganz sicher, sagte er, sie will, dass du zu uns zum Mittagessen kommst. Ich sagte, okay, aber ich müsste erst meine Mom fragen.
Celina Davenport war wesentlich größer als ihr Mann, Elgar senior. Sie hatte kein rotes Haar, wie Elgar junior und Elgar senior es hatten. Bevor wir uns zum Mittagessen hinsetzten, nahm sie mich mit ins Wohnzimmer und zeigte mir den Kaminsims mit ihren Tennistrophäen eines Colleges, von dem sie sagte, es sei eines der »Seven Sisters« an der Ostküste, wo keine Jungen studieren dürften. Mit ihrer heiseren Stimme, die nach zahllosen trockenen Martinis klang, sagte sie, dass sie an diesem Ort geradezu die Wände hochgegangen war.
»Elgar weiß, wie ich die Wände hochgehe«, sagte sie und verstrubbelte seine Haare.
Sie führte uns in die Küche. Ich war so verkrampft, dass ich überhaupt hier war, und ich wusste nicht, warum ich hier war, sodass ich ihr nur halb zuhörte und so bloß halb verstand, was sie meinte. Doch war mir beigebracht worden, dass man, wenn man nicht weiß, was man zu jemandem sagen soll, anstatt eine unbe hagliche Stille aufkommen zu lassen, einfach eine Frage in die Stille stellen solle. Also fragte ich sie, warum sie die Wände hochgehen wollte. Sie sah mich an, als hätte ich sie gefragt, ob zum Abendessen Katzenfutter auf den Tisch komme. Dann lachte sie und rief ihr Dienstmädchen, Mrs. Szymanski, um das Mittagessen zu servieren. Wir aßen in der Küche, Celina Davenport, Elgar und ich. Mrs. Szymanski stellte einen Teller mit Sandwiches auf den Tisch und goss Limonade für Elgar und mich ein. Auch Mrs. Davenport trank Limonade, allerdings mit einem Schlückchen Gin. So verstohlen, wie ich konnte, hob ich eine Seite der Brotscheibe an, um einen Blick darunter zu werfen. Ich war nicht verstohlen genug gewesen.
»Stimmt was nicht mit dem Sandwich, Frankie?«, fragte Mrs. Davenport.
»Der Name gefällt ihm nicht, Mom.«
»Welcher Name gefällt dir, Schätzchen?«
»Frank«, sagte ich und versuchte, nicht so schroff zu klingen wie Elgar.
»Deine Mutter nennt dich Frankie, wenn sie dich bittet, ins Haus zu kommen.« Das erschreckte mich, denn mir war nicht klar gewesen, dass sie meine Mutter überhaupt kannte. Ich wusste, dass meine Mutter ihr bekannt war, denn die Davenports hatten eine Petition mit fünfhundert Haushalten unterzeichnet, um uns aus Kenwood fernzuhalten; und die meisten der Nachbarinnen und Nachbarn hatten nie ein Wort mit meiner Mutter gewechselt. Ich sagte nichts.
Sie fragte noch einmal: »Was stimmt nicht mit dem Sandwich … Frank?«
»Nichts, Mrs. Davenport.«
»Nun sag schon. Ich bin nicht beleidigt, wenn du meine Sandwiches nicht magst.« Die Ironie ihrer Aussage entging mir damals, denn es waren nicht ihre Sandwiches. Mrs. Szymanski hatte sie zubereitet.
»Ich wollte nur mal sehen, wo das Fleisch ist, damit ich es in die Mitte schieben kann.«
Amüsiert sagte Elgars Mutter: »Es ist ein italienisches Sandwich: Provolone, Spinat und Tomaten und eine Idee Pesto. Man bekommt Blähungen, wenn man bei dieser Hitze Fleisch isst.«
»Meine Mutter sagt das auch«, meinte ich. »Sie macht die auch manchmal.«
»Ach, tut sie das?« Mrs. Davenport nickte und zündete sich eine Pall Mall an. »Quäl dich bitte nicht. Du brauchst es nicht zu essen.«
Das war eine vorübergehende Gnadenfrist vor dem Todesurteil, bis ich mich daran erinnerte, dass meine Mutter mir aufgetragen hatte, ich solle mich von meiner besten Seite zeigen. Ich nahm einen großen Bissen. Eine Übelkeit kitzelte meinen Magen, als ich versuchte zu schlucken. Die Mayonnaise, der gummiartige Käse und die sauren Tomaten, kombiniert mit diesem Hauch von Pesto, kämpften sich in teigigen, halb zerkauten Pfropfen meine Speiseröhre runter.
Dann stellte Celina Davenport die Frage, die Elgar mir an der Remise vor der Berliner Mauer gestellt hatte. Auf einem Stuhl direkt gegenüber von mir nippte sie an ihrer mit Gin gespickten Limonade, nahm einen weiteren Zug an ihrer Zigarette und starrte mir ins Gesicht, während sie auf meine Antwort wartete.
Ich hörte auf zu essen. (»Ich würde nie einen Mann einstellen, der eine Mahlzeit vor dem Essen salzt.« Einer der Grundsätze meines Vaters. »Das bedeutet, dass du nichts Unüberlegtes sagen oder voreilig handeln solltest, Frankie. Wenn du die Antwort nicht weißt, denke nach und nimm dir einen Moment Zeit, um herauszufinden, was gefragt wurde.«) Aufmerksam sah ich mich in dem Raum um. Ihre Spitzenvorhänge, die sich im Wind vor den Küchenfenstern wölbten; ihr polierter grüner Gasherd mit antiken goldenen Knöpfen; ihr Frigidaire-Kühlschrank, der wie der Silver Surfer im Marvel Comic schimmerte, mit einem Eiswürfelbereiter in der Tür und einem Wasserspender, sodass Eis und Wasser ausgegeben werden konnten, ohne dass man das Gerät öffnen musste, etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte; ihr weißer Tennisrock mit Bügelfalten, ihre weißen Turnschuhe, ihre wohlgeformten Beine und die Art und Weise, wie sie wartete, ohne zu blinzeln. Sie starrt mich an wie ein ostdeutscher Grenzsoldat. Die falsche Antwort, und du wirst es nicht zurückschaffen. Sie ist nicht nur eine hübsche Tennislady, und das sind nicht nur hübsche Tennisschuhe; in den Spitzen ihrer Schuhe sind ausfahrbare Messerklingen verborgen, und sie wird dich ins Schienbein treten, wenn du Papas Grundsatz vergisst und etwas Unüberlegtes sagst.
»Mutter«, sagte Elgar, »ich habe dir schon gesagt, was er gesagt hat.«
»Ich kann dir nicht mal vertrauen, dass du das richtige Wechselgeld nach Hause bringst, Elgar. ›Ziemlich gut. Schätze ich‹? Elgar, du redest so. Sein Vater ist Pädagoge.«
»Ich hab noch mehr sagen wollen,« entschuldigte ich mich.
»Na sicher wolltest du das. Elgar hat dir nicht die Möglichkeit dazu gegeben.«
Sie wirkte zufrieden. Ich wollte, dass das so bleibt. Jeder Spion weiß, wie man die Wachleute bei Laune hält.
Ich erzählte ihr, es sei nett, ein Negro zu sein. Sie stieß einen weiteren schmalen Rauchzyklon aus. Sie guckte nicht gerade erfreut drein. Also sagte ich ihr, dass Negros coole Sachen machen dürfen.
»Was zum Beispiel?«, fragte sie aufgeweckter.
Ich war aus der Fassung gebracht, und so erzählte ich ihr vom Masongate Resort am Gull Lake in der Nähe von Brainerd, Minnesota. Ich erzählte, dass unsere Familie und eine ganze Menge anderer Negro -Familien dort jeden August eine Woche zusammenkämen zum Angeln, Schwimmen, Boot- und Wasserskifahren. Das Masongate Resort war ihr bekannt, doch irgendetwas von meiner Geschichte passte nicht zu dem, was sie darüber wusste. Sie fragte mich, ob ich das Masongate Resort vielleicht mit einem anderen Ort verwechselte.
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