Ich hatte nicht tief genug gegraben, um zu erkennen, dass die Schwarzen zwar die zeitliche und räumliche Unterwerfung durch die kartografische Entwurzelung und die Hydraulik des kapitalistischen Arbeitstages erleiden, dass wir aber auch als die Wirte menschlicher Parasiten leiden, obwohl diese Menschen selbst die Wirte des parasitären Kapitals und des Kolonialismus sein konnten. Ich hatte mich der Theorie zugewandt (zunächst im kreativen Schreiben und erst viel später als kritischer Theoretiker), auf dass sie mir dabei hilft, die Geschichte von der Befreiung der Schwarzen – der politischen Erlösung der Schwarzen – zu finden und zu erfinden. Was ich stattdessen fand, war, dass Erlösung als Erzähltechnik parasitär war und sich zu Zwecken ihrer Kohärenz von mir ernährte. Alles, was in meinem Leben Bedeutung besaß, war unter den Begriffen der »kritischen Theorie« und der »radikalen Politik« rubriziert, und die Parasiten waren das Kapital, der Kolonialismus, das Patriarchat und die Homophobie gewesen. Und nun war mir klar, dass ich den Anschluss verpasst hatte. Meine Parasiten waren Menschen, alle Menschen – die Habenden wie die Habenichtse. Wenn kritische Theorie und radikale Politik sich von dem Parasitismus befreien wollen, den sie bisher mit den radikalen und progressiven Bewegungen der Linken gemeinsam hatten, das heißt, wenn wir nicht leugnen wollen, sondern uns befassen wollen mit dem Unterschied zwischen Menschen, die unter einer »Ökonomie der Verfügbarkeit« 8leiden, und Schwarzen, die einen »sozialen Tod« 9erleiden, dann müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie die Erlösung der Subalternen (eine Erzählung zum Beispiel von palästinensischer Fülle, Verlust und Wiederherstellung) gerade durch die (Wieder-)Einsetzung eines Gewaltregimes ermöglicht wird, das Schwarze von der Erlösungserzählung ausschließt. Dies erfordert erstens ein Verständnis des Unterschieds zwischen Verlust und Mangel und zweitens ein Verständnis dafür, wie die Erzählung von subalternem Verlust auf den Trümmern Schwarzen Mangels errichtet ist.
Sameer und ich teilten keine universelle postkoloniale Grammatik des Leidens. Sameers Verlust ist greifbar: Land. Das Paradigma seiner Enteignung entfaltet den Kapitalismus und die Kolonie. Wenn es nicht greifbar ist, so ist es zumindest kohärent, wie beim Verlust von Arbeitskraft. Doch wie soll man den Verlust beschreiben, der die Welt ausmacht, wenn alles, was man über diesen Verlust sagen kann, in der Welt verkapselt ist? Wie erzählt man den Verlust des Verlustes? Was ist der »Unterschied zwischen […] etwas zu retten […] [und nichts] zu verlieren zu haben«? 10Sameer zwang mich, der Tiefe meiner Isolation auf eine Art und Weise gegenüberzutreten, die ich hatte vermeiden wollen; eine tiefe Grube, aus der mich weder die postkoloniale Theorie noch der Marxismus oder die Geschlechterpolitik eines unnachgiebigen Feminismus zu retten vermochten.
Warum ist Gewalt gegen Schwarze keine Form von rassistischem Hass, sondern das Genom der menschlichen Erneuerung; ein therapeutischer Balsam, den das Menschengeschlecht zu seiner Selbstvergewisserung und zu seiner Heilung bedarf? Warum muss die Welt diese Gewalt reproduzieren, diesen sozialen Tod, sodass das soziale Leben die Menschen regeneriert und davor bewahrt, die Katastrophen einer psychischen Inkohärenz zu erleiden, sprich eines Mangels? Warum muss die Welt sich von Schwarzem Fleisch ernähren?
3
Als der Arzt und die Krankenschwester zurückkamen, war ich endlich in der Lage zu sprechen. Sie fragten, wie es zu meinem Zusammenbruch gekommen sei. Ich sagte ihnen, es sei der Stress der Graduiertenschule. Der beste Weg, mit einem Verhör klarzukommen, ist, ein wenig Wahrheit in die Lüge einzuweben. Ich konnte ihnen nicht sagen, dass mir plötzlich klar geworden war, was es heißt, ein Afropessimist zu sein; dass mein Zusammenbruch durch einen Durchbruch ausgelöst worden war, bei dem ich endlich verstanden hatte, warum ich zu schwarz war, um gepflegt und umsorgt zu werden. Wie eine Fledermaus, die durch eine Höhle flitzt, suchte mein Geist nach Antworten durch Echoortung. Doch keine Fackel warf ihr Licht auf die Medikamente, die ich einnahm; stattdessen fand ich die vergessenen Zeilen meines Gedichts.
zu Halloween wusch ich mein
Gesicht und zog meine
Schulkleidung an ging von Tür zu
Tür als Alptraum.
for Halloween I washed my
face and wore my
school clothes went door to
door as a nightmare.
*Etwas, das durch Angst hervorgerufen oder verursacht wird.
**Jared Sexton beschreibt libidinöse Ökonomie als »die Ökonomie, oder Distribution und Arrangement, von Begierde und Identifikation (ihre Kondensation und Verschiebung) sowie die komplexe Beziehung zwischen Sexualität und Unbewusstem.« Zweifellos agiert die libidinöse Ökonomie in verschiedenen Ausmaßen und ist so »objektiv« wie die politische Ökonomie. Es ist wichtig zu sehen, dass sie nicht nur in Verbindung steht mit Formen von Anziehung, Zuneigung, Allianz, sondern auch mit Formen von Aggression, Zerstörung und der Gewalt von tödlichem Konsum. Marriott unterstreicht, die libidinöse Ökonomie sei »die gesamte Struktur des psychischen und emotionalen Lebens«, etwas, das die von Gramsci und anderen Marxist:innen beschriebene »Gefühlsstruktur« einbezieht und über sie hinausgeht; sie ist eine »Ausschüttung von Energien, Sorgen, Aufmerksamkeiten, Lüsten, Geschmäckern, Abneigungen und Phobien, die sowohl zu enormer Beweglichkeit als auch hartnäckiger Fixation in der Lage sind.«
KAPITEL ZWEI
Saft aus einem Halsknochen
1
Im Alter von elf Jahren lag ich nachts allein im Dunkeln auf dem Fußboden unseres Wohnzimmers und lauschte gregorianischen Gesängen, Tonbandaufnahmen des Chors, in dem meine Mutter sang, des Chors in der Basilica of Saint Mary in der Innenstadt von Minneapolis. Allein im Dunkeln sah ich mich zehn Jahre in der Zukunft, in eine weiße Soutane gehüllt, gerahmt von zwei Ministranten, die mir den kalten steinernen Gang nachfolgten. Die kühle Kathedralenluft war mit einer Spur Weihrauch gewürzt. Im Sommer 1967 war es schwül in Minnesota. Der Sommer der Liebe an der Küste Kaliforniens war im Land der zehntausend Seen eine luftfeuchte, von Moskitos durchschwärmte Jahreszeit. Doch auf dem Boden war es kühl, sodass ich ohne Hemd auf dem Teppich lag und meine Haut den volltönenden Klängen überließ, Kielwasser um Kielwasser aufsteigender Wellen, die ich durchtauchte und mich als Priester imaginierte. Sanktuarium.
Im Alter von elf Jahren war ich kein Afropessimist, und meinem Wissen über das, was mir so viel Angst machte, fehlte ein Critical-Race-Vokabular. Doch ich wusste, dass ich Schwarz war; nicht weil der Geruch von Filé-Pulver und Räucherwurst, die in einer angedickten Gumbo-Mehlschwitze köchelten, aus meinem und keinem anderen Haus in der Nachbarschaft aufstieg, sondern weil wir die Einzigen waren, die sie Negro nannten. Erst im folgenden Jahr, 1968, als ich zwölf wurde, würde ich zu einem Schwarzen. Im Dunkeln, als ich mit elf Jahren auf dem Boden des Wohnzimmers lag, wusste ich, dass ich ein Negro war, nicht aufgrund meiner Kultur, sondern weil diese Tatsache die Quelle meiner Scham war; einer Scham, die in der Nachbarschaft niemand teilte. Die gregorianischen Gesänge zitterten in meiner Brust und weiteten die Dunkelheit zu breiten, kavernenhaften Katakomben aus, die sich durch mich hindurch und aus mir hinaus erstreckten zur anderen Seite hin, zu jener Seite, wo ich mich in der Zukunft sah, einer Zukunft, in der ich von meinen Gemeindemitgliedern verehrt würde, anstatt geschmäht zu werden, wie mich in der ersten Klasse ein kleines Mädchen geschmäht hatte, das meine Hand nicht halten wollte aus Angst, dass der Ruß meiner Haut sie beflecken könnte. Im Klangtunnel meiner Zukunft fielen die Kinder und meine Lehrerinnen und Lehrer vor mir auf die Knie, wenn ich an ihnen vorbeiging, sie standen und knieten auf meinen Befehl hin, sie beichteten mir ihre Sünden, bevor sie des Leibes Christi würdig wurden. Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich wollte seine Hand nicht halten, weil sein Ruß auf mich abfärben würde. Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich nannte ihn einen Affen, als er im Sportunterricht das Tau hochkletterte. Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich drückte meine Zunge zwischen Zähne und Oberlippe und kratzte mir die Achseln, als er sich herunterhangelte. Vergib mir, Vater, denn wir haben gesündigt. Wir lachten. Vergib mir, Vater, denn wir haben gesündigt. Wir drückten sein Gesicht in den Schnee. Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich nannte ihn »Freund« und brachte ihn aufgrund der Neugier meiner Mutter mit nach Hause. Wie fühlt es sich an, fragte sie, ein Negro zu sein? Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich brachte ihn dazu, sich vor die Klasse zu stellen und uns den Treueschwur auf die Vereinigten Staaten aufzusagen.
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