Ich bin ein Doktorand mittleren Alters, waren die Worte, die ich zu dem Bild gesagt hatte, das der Spiegel zersplittert hatte. Ich. Reiße. Mich. Zusammen. Doch der stechende Schmerz in meiner Brust hatte einfach nicht auf mich gehört. Er wollte sich erinnern und dem Gedicht lauschen, das vor wenigen Augenblicken durch meinen Geist hindurchgeflossen war.
Mir war klar, dass ich hier rausmusste, bevor ich, ganz allein in meinem Badezimmer, an einem Herzinfarkt stürbe. Vom Gehen schien ich beinahe ohnmächtig zu werden. Die Wohnung war klein; nur ein Badezimmer, dann ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Wohnzimmer. In jedem Zimmer fand ich etwas, woran ich mich mit der Hand festklammern konnte – die Schranktür, den Herd, die Lehne eines Küchenstuhls, die Reihen an Bücherregalen im Wohnzimmer, die bis zur Eingangstür reichten. Die Eingangstür fiel hinter mir ins Schloss.
Mir wurde schwindelig, als ich jene sieben Stufen hinabblickte, als schaute ich in eine tiefe Schlucht. Der Drang, in Ohnmacht zu fallen, und der Drang, zu erbrechen, bekämpften sich in meinem Körper. Schlechtes Karma, dachte ich hinter meinen tränenfeuchten, verschwommenen Augen. Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden. Mein Honda Civic döste am Bordstein wie eine kleine blaue Eidechse.
Meine Schlüssel schrappten gegen das gusseiserne Geländer, als ich die Treppe hinunterstolperte. Süßes, sonst gibt’s Saures, dachte ich mit einem Lachen, wir haben uns das Gesicht gewaschen, und wir stecken in unseren Schuluniformen. Eine wahnsinnig wütende Bestie rang darum, in einem Guss aus Blut und Galle aus meiner Haut zu fahren. Ich wollte heulen. Eine Handfläche stemmte sich gegen die Fensterscheibe. Eine Hand fummelte an den Schlüsseln herum. »Kann mir jemand helfen?«, schluchzte ich vor mich hin, hoffend, dass mich keine weiße Person hören konnte. »Kann mir bitte jemand helfen?«
Während ich nun auf der Bahre lag, erinnerte ich mich an die silbernen Kotzfäden, die sich auf der Motorhaube meines Autos kringelten. Dann, ohne zu wissen, wie oder warum, saß ich in einem Bus, der durch die Innenstadt von Berkeley fuhr. Ich sah dabei zu, wie ich mich selbst durch die Augen der Fahrgäste im Bus sah, während ich zur Seite sackte und leise schluchzte. Sie sollen sich sicher fühlen, hatte ich mir gedacht, auch wenn ich mich selbst noch nie so unsicher gefühlt hatte. Ich dachte noch einmal an diesen Moment zurück, als die Krankenschwester und der Arzt zum ersten Mal diese weiße Gruft betraten, in der ich aufgebahrt war. Sie sollen sich sicher fühlen – die Hauptregel der internationalen Negro- Diplomatie.
Jetzt, allein in der Klinik, blessierten Lichtposaunen meine Augen, und es wurde kalt im Raum. Schloss ich jedoch meine Lider, rauschte eine Kette vergangener Leben durch meinen Schädel wie ein Zug, der über einer Schlucht entgleiste. Jeder einzelne Eisenbahnwagen war ein Waggon aus Zeit. Die Lok war das Jetzt, die Zeit dieses gegenwärtigen Moments auf der Bahre. Anschließend stürzte ein Zeitwaggon herunter, der mein Leben im Apartheid-Südafrika in sich trug, wo Mandelas Versprechen flackerten und erstickten wie die letzten Japser von Straßenlaternen. All das Blutvergießen für eine Flaggen-und-Hymnen-Nation, für den Nebel der Mythologien, und die scharfe Kritik von Mandelas Kumpanen, die die sogenannte Ultralinke tadelte mit Worten wie: »Kameraden, jetzt müsst ihr endlich begreifen, dass ihr euch nicht von euren Prinzi pien ernähren könnt.« Der nächste Waggon, der die Felswand hinunterrauschte, waren die 1980er-Jahre: Ein Ersteklasseabteil voller Sorgen und Magengeschwüren. Ich war ein frischgebackener Universitätsabgänger, der glaubte, mit Schmerz könnte man auf dem Börsenparkett handeln, so wie mit allem anderen im Leben auch. Acht Jahre lang, von der Zeit, als ich meinen Universitätsabschluss machte, bis zu der Zeit, als ich nach Südafrika auswanderte, um gegen die Apartheid zu kämpfen, arbeitete ich als Börsenmakler. Der erste Schwarze Börsenhändler von Minnesota, wie mir damals von dem Sales Manager gesagt wurde, der mich stolzgeschwellt einstellte.
2
Jene acht Jahre haben meine Gesundheit fast vollständig ruiniert. Eine meiner Gesichtshälften zuckte und schauderte nach Belieben. Ein Geschwür zerfraß meine Magenschleimhaut. Mein Internist war nicht der erste Mensch, der diese Prognose gestellt hatte. Jasmine, eine Sekretärin in der Hauptverwaltung von Merrill Lynch an der Wall Street, die ich eines Sommers während eines Weiterbildungsmonats kennengelernt hatte, hatte mir ebenfalls gesagt, dass ich in diesem Berufsfeld nichts verloren hätte. Sie hatte recht, und auch ich wusste es damals, doch Geld ist eine enorme Motivation; jetzt bot sich mir die Gelegenheit, all das Geld für meine gesundheitliche Langzeitpflege auszugeben, wenn ich nicht sofort etwas unternahm.
»Sie sind kein Kapitalist«, sagte mir mein Internist. »Sie besitzen nicht den Mut, den man dazu braucht.«
»Ich will Geld. Ich brauche Geld.«
»Sie trinken acht Tassen Kaffee am Tag. Ihre Wange flackert wie eine Morselampe. Meinen Sie, dass Sie warten sollen, bis Ihr Geschwür die Größe meines kleinen Fingers hat, ist es das, was Sie machen sollten?«
Ich versuchte, kürzer zu treten, was bedeutete, dass ich weniger Umsatz machte, und bald war mir klar, dass ich kündigen sollte, bevor der Sales Manager mich in Verlegenheit brächte und mich hinausgeleiten würde. Ich trat eine Stelle als Kellner in einem exklusiven Beach Club am See an, der erst Ende der 1960er-Jahre Juden als Mitglieder aufnahm und erst Mitte der 1970er-Jahre sein erstes Schwarzes Mitglied hatte. Die Kundschaft reichte von Dan Aykroyd und Jim Belushi, deren Gefolge das Innere des Ballsaals so zurückgelassen hatte, dass es, gelinde gesagt, renoviert werden musste, bis zu den alten blaublütigen Familien, die 1962 versucht hatten, meine Eltern aus ihrer Nachbarschaft fernzuhalten. Eines Tages ging ich in den Ballsaal und balancierte ein großes Tablett mit neun Caesar-Salaten auf meiner Schulter. Das Tablett geriet ins Wanken und fiel mir fast hinunter, als ich die Gesichter an dem Tisch erblickte, an den ich geschickt worden war. Es waren Kollegen – ehemalige Kollegen – der Firma, bei der ich vor zwei Monaten gekündigt hatte. Langsam wurde ich der Lüge habhaft, die ich ihnen erzählt hatte, als ich damals ging. »Leute, ich bin es leid, fürs Establishment zu schuften. Ich probiere es jetzt als privater Dealmaker mit ein bisschen Finanzplanung nebenher.« Nach und nach servierte ich ihnen ihre Salate. Mein Name blubberte aus ihren Mündern: »Frank?« – eine Frage, die in ein Japsen gehüllt war. Ich kündigte auch hier eine Woche später – was keinen Sinn machte, denn sie hatten mich ja gesehen, die Lüge war bloßgelegt worden – und arbeitete dann für weniger Gehalt in einem Kunstmuseum.
Ich arbeitete als Wachmann im Walker Art Center mit seinem Blick über Downtown Minneapolis, und ich leckte meine Wunden von der Zeit im Calhoun Beach Club und meinen acht ethisch bankrotten Jahren als Börsenmakler. In Palästina hatte gerade die Erste Intifada begonnen, und ich hatte einen lieben Freund aus Ramallah, der ebenfalls als Wachmann im Museum angestellt war. Sein Name war Sameer Bishara. Er war Fotograf und studierte an der Kunsthochschule von Minneapolis. Wir teilten die politische Einstellung: Revolutionär; und das Sternzeichen: Widder. Zwei Menschen, die sich häufig irrten, aber keinen Zweifel kannten. »Wenn wir in einem Flugzeug säßen«, sagte Sameer einmal zu mir, »und wir in der Wüste abstürzten und eine Gruppe aus den Überlebenden gebildet würde, dann hätten einige von ihnen die Aufgabe, Wasser zu finden, andere hätten die Aufgabe, Nahrung und Feuerholz aufzutreiben, und wir bräuchten ein Team, um einen Unterschlupf aus all dem zu bauen, was nach dem Absturz geborgen werden könnte. Aber du, Frank, du wärst derjenige, der sich zurücklehnen und uns Befehle erteilen würde.« Ich habe ihm die Genugtuung, die er bei dieser Spitze empfand, nicht dadurch getrübt, dass ich ihm sagte, er habe mir Charakterzüge zugeschrieben, die geradeso gut auf ihn zuträfen.
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