Chris Kraus
Aus dem amerikanischen Englisch von Kevin Vennemann
Dieses Buch ist der Erinnerung anDavid Rattray und Lily gewidmet .
Aliens & Anorexie Aliens & Anorexie Countdown auf der Millenniumsuhr an der Ecke 34th Street und 7th Avenue in Manhattan. Ein Raster aus zuckenden Lichtpunkten, die sich zu Ziffern zusammensetzen, umringt von Sponsorenlogos in leuchtenden Farben, die in das Plastichrome gebrannt sind – TCBY, Roy Rogers, Staples und Kentucky Fried Chicken – eine neomittelalterliche Mitteilung unserer Sponsoren, die uns davon in Kenntnis setzt, dass zwar die Zeit flüssig sein mag – das Kapital jedoch ist von Dauer – Noch 468 Tage, 11 Stunden, 43 Minuten, 16 Sekunden
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5
Gavin Brice
Schwerkraft & Gnade
Teil 1: Neuseeland
Teil 2: New York
Danksagung
Bibliografie
Countdown auf der Millenniumsuhr an der Ecke 34th Street und 7th Avenue in Manhattan. Ein Raster aus zuckenden Lichtpunkten, die sich zu Ziffern zusammensetzen, umringt von Sponsorenlogos in leuchtenden Farben, die in das Plastichrome gebrannt sind – TCBY, Roy Rogers, Staples und Kentucky Fried Chicken – eine neomittelalterliche Mitteilung unserer Sponsoren, die uns davon in Kenntnis setzt, dass zwar die Zeit flüssig sein mag – das Kapital jedoch ist von Dauer –
Noch 468 Tage, 11 Stunden, 43 Minuten, 16 Sekunden
New York City, Herbst 1978
Wir befinden uns in einem großen Raum im ersten Stock, wo Pisti und Eva wohnen. Squat Theater , eine ungarische Gruppe von Schauspielern-Künstlern-Untergrundintellektuellen, deren Arbeit in Budapest verboten war, weil sie »moralisch anstößig, obszön« sei und nicht der »kulturpolitischen Zielstellung der Regierung« diene, lebt jetzt in einem Gebäude auf der West 23rd Street mit ihren Kindern. Sie brauchen einen Ort, wo sie leben und arbeiten können, wo sie die Grenzen zwischen ihrem kollektiven Alltag und ihren Performances, dem Inneren ihres Theaters/Zuhauses, zwischen Passanten und Straßenverkehr auflösen und neu ausrichten können. Sie verbringen Monate damit, zu planen und die Details ihrer Performances zu diskutieren, doch sie proben nicht.
In Andy Warhols letzte Liebe sitzt Eva Buchmuller, eine junge Frau mit langem Haar und bekleidet mit einem kurzen schwarzen Unterrock, vor einem Bücherregal an einem Tisch. Sie beschwört die Stimme der toten Ulrike Meinhof durch ein Paar Kopfhörer hindurch. Sie raucht, hört angestrengt zu:
zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz
Hier spricht Ulrike Meinhof zu den Erdenbewohnern. Ihr müsst euren Tod öffentlich machen. Am Abend des 9. Mai 1976 in einer speziellen Einzelhaftzelle des Stammheimer Gefängnisses, in der ich ohne Schuldspruch und auf Anweisung des Oberstaatsanwaltes der Bundesrepublik Deutschland als eine der Anführerinnen der Roten Armee Fraktion gefangen gehalten wurde
zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz
Als sich der Strick um meinen Hals zusammenzog, im selben Moment, in dem ich meinen Verstand verlor, verlor ich mit einem Mal auch meine Wahrnehmung, gewann jedoch mein gesamtes Bewusstsein und Urteilsvermögen zurück. Ein Außerirdischer machte Liebe mit mir .
Wenn es tatsächlich wahr ist, wie manche Tageszeitungen schreiben, dass man Spermaspuren auf meinem Kleid fand, stammen diese womöglich vom Geschlechtsverkehr .
Nachdem wir Liebe gemacht hatten, stellte ich fest, dass mein Bewusstsein in einem neuen und unverletzten Körper weiter wirkte .
Im Anschluss nahm mich der Außerirdische mit zu einem besonderen Planeten, der zu Andromeda gehört. Die Gesellschaft dort geht mit Zeit und Raum intensiv, sanft, diszipliniert und frei um. Over …
In diesem Stück treffen Andy Warhol und Ulrike Meinhof aufeinander, zwei kulturelle Ikonen, die gegensätzlicher jedoch kaum sein könnten. – Sie bilden eine dialektische Synthese, die in psychische Zustände transponiert wurde. Jahre später schrieb Eva Buchmuller: »Ulrike Meinhof ist eine Legende, die Politik in tragische Poesie verwandelte […]. Nach den Grundsätzen der Popkultur ist Andy Warhol ein Klon seiner selbst. Deshalb ist er so real, wie es eigentlich nur geht. Wie sind Andy Warhol und Ulrike Meinhof einander begegnet? Reiner Zufall.«
Am 17. Januar 1996 flog ich von Los Angeles nach Berlin.
Ich war unterwegs nach Deutschland, um den Berliner Filmfestspielen beizuwohnen, beziehungsweise, um genauer zu sein, um zum European Film Market zu gehen, weil nämlich Gravity & Grace , jener billige Indie-Film, den ich in den drei Jahren zuvor produziert, geschrieben, geschnitten hatte, bei dem ich Regie geführt hatte und den ich nun auch noch vertreiben musste, bereits zweimal in allen drei Kategorien der Berliner Filmfestspiele abgelehnt worden war. Vor einigen Jahren war der European Film Market den Festspielen als kommerzielle Plattform hinzugefügt worden – eine profitable Handelsmesse, auf der all jene Waren gekauft und verkauft wurden, die als unpassend für die Festspiele galten. Hunderte von europäischen Fernsehdramen, asiatischen Action-Filmen, lateinamerikanischen Thrillern wechselten die Besitzer und wurden zwischen Produzenten und Vertrieben, Einkäufern fürs Fernsehen, Entertainment-Anwälten, Banken und Regierungskonsortien hin und her gereicht. Der European Film Market ist der beste Ort für den Zweitmarkt des »Welt-«Films – das heißt für alles das, was außerhalb von Hollywood produziert wird.
Gravity & Grace war ein experimenteller 16-mm-Film über Hoffnung, Verzweiflung, über religiöse Gefühle und religiöse Überzeugungen. Er ist sehr philosophisch, anstatt von Handlung oder Figuren getragen zu werden, und er rahmt das Leben zweier Teenager-Mädchen und einer desillusionierten Frau in ihren Vierzigern.
Tagebucheintrag auf dem Flug von Los Angeles nach London, 17. Januar, die ersten neun Stunden der zwanzigstündigen Reise: »Ich will nicht nach Berlin.«
Weil keine meiner Bekannten oder Freundinnen diejenige sein wollte, die mir endlich ins Gesicht sagt, dass der Film gescheitert sei, taten alle so, als sei diese »Einladung« zum European Film Market eine Ehre und sogar eine Chance. Und dann gab es ja noch jene urbane Legende, dass Jennifer Montgomery, die Ex-Freundin meiner Freundin, der Lyrikerin Eileen Myles, im Jahr zuvor auf dem Market einen Vertriebsvertrag mit New Yorker Films für ihren Spielfilm Art for Teachers of Children unterzeichnet hatte, obwohl der Film vom Festival abgelehnt worden war …
Doch Gravity & Grace war schlicht und einfach unattraktiv das Heimvideo einer Amateurintellektuellen, auf bulimische Längen ausgedehnt, gefilmt und geschnitten in drei Ländern mit einer Besetzung und Crew von insgesamt siebzig oder achtzig Personen, das ungefähr so viel wie eine Dreizimmerwohnung in Park Slope gekostet hatte. In den sechs Monaten nach seiner Fertigstellung war der Film von jedem größeren Filmfestival abgelehnt worden, von Sundance bis Australien und Turin.
Glücklicherweise unterhielt die New York Foundation for the Arts ein Programm, das Filmen wie diesem unterstützend zur Seite stehen sollte. Von der unternehmungslustigen Lynda Hansen initiiert, kaufte die Delegation der American Independents and Features Abroad jedes Jahr einen ganzen Satz von Plätzen auf dem European Film Market und verkaufte sie dann an ein Dutzend Filmemacher weiter. Der Preis – etwa 3000 Dollar – deckte die Registrierung für den Market und eine Aufführung des Films. Als kostenlosen Bonus sorgte die NYFA dafür, dass jeder Film eine Seite PR-Gequatsche in der American Independents -Broschüre erhält und der Regisseurin auf dem Market der Zugang zu »dem Stand« ermöglicht wird, was im Grunde nur bedeutete: Zugang zu den Nachrichtenfächern der Produzenten, die diese Fächer wiederum, wie sich in meinem Fall erwies, überhaupt nicht nutzten.
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