Die sichere Bindung zu anderen Menschen ist nicht nur aus emotionaler Sicht von hoher Bedeutung, sondern stellt auch eine Bedingung für das Überleben eines Neugeborenen dar: Im Vergleich zu anderen Tierarten werden wir Menschen sehr unreif geboren und benötigen mehrere Jahre bis zur Erreichung der notwendigen Reife, um selbstständig zu überleben. In fMRT-Studien konnte gezeigt werden, dass bei Menschen das Erleben von Isolation und Ausgrenzung zu fast den gleichen Aktivierungen in der Inselregion des Kortex führt wie das Erleben von körperlichem Schmerz (Eisenberger et al. 2003). Das Bindungsbedürfnis sorgt dafür, dass Menschen Gruppen bilden und miteinander sozialisieren und kooperieren.
Der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit und nach Kontakt zu anderen Artgenossen ist nicht nur bei Menschen basal: Säugetiere könnten im Allgemeinen ohne eine starke Bindung zwischen Mutter und Kind nicht existieren. Wie verhält es sich jedoch mit ausgewachsenen Säugetieren? Harlow wies bereits 1958 nach, dass auch bei Rhesusaffen das Bindungsbedürfnis stärker ist als das Bedürfnis nach konstanter Nahrungsaufnahme. Auch Cairns postulierte 1966 eine allgemeine bindungsorientierte Verhaltenstendenz bei Säugetieren und konnte verschiedene Faktoren herausarbeiten, die den Bindungsaufbau verschiedener Tierarten beeinflussen. Aber auch ohne eine ausführliche Literaturrecherche begegnet uns das Bindungsbedürfnis anderer Tierarten alltäglich: Wie reagiert bspw. ein Hund, wenn sein Herrchen nach vielen Stunden Abwesenheit wieder da ist?
Der Wunsch nach autonomen Handlungen ist ebenfalls nicht nur bei Menschen zu beobachten, sondern ebenso eine Regung, die Ihnen auch alltäglich begegnen wird, wenn Sie Haustierbesitzer sind – besonders wenn Ihr tierischer Mitbewohner eine Katze ist. Selbstbehauptung stellt die andere Seite dieser Polarität dar und beinhaltet alloplastisch-externalisierende Tendenzen des Organismus, die auch im physiologischen Sinne zur Aktivierung führen und einerseits selbstwirksames und zielgerichtetes, andererseits in sozialen Situationen dominantes Verhalten ermöglichen.
1.1.1 Wieso eine dimensionale Perspektive?
Aus theoretischer Sicht hat solch ein dimensionales Verständnis mit zwei Grundpolaritäten als fundamentaler Beschreibungsebene sozialer Beziehungstendenzen eine historische Tradition und findet in zahlreichen Denkmodellen seinen Niederschlag: Der Philosoph David Bakan (1976) unterscheidet bspw. zwischen »Communio« und »Actio« und Sigmund Freud (1920) stellt im Rahmen seiner Strukturtheorie die Hypothese einer ebenso dichotomischen Zuordnung von Trieben in »Eros« (bindungsorientierte Tendenz oder »Lebenstriebe«) und »Thanatos« (selbstbehauptungs- und Individualisierungsorientierte Tendenz oder »Todestriebe«).
Das »2-Polaritäten-Prinzip« finden Sie aber auch in unserem vegetativen Nervensystem: Sympathikus (Aktivität und Energieverausgabung) und Parasympathikus (Passivität und Erholung) bilden eine solche Dimension. Die folgende Tabelle zeigt einen Überblick solcher Polaritäten entlang der übergeordneten Dimension Bindung
Sebstbehauptung (
Tab. 1.2).
Tab. 1.2: Die Polarität von Bindung und Selbstbehauptung im Überblick

BindungSelbstbehauptung
1.1.2 Wie interagieren Bindung und Selbstbehauptung?
Die Polyvagale Theorie von Porges (2011) liefert dabei eine mögliche Antwort. Mit dem Begriff der »Neurozeption« beschreibt er einen vegetativen (unbewussten) Prozess, der nach der Wahrnehmung von Umweltreizen in der aktuell erlebten Situation (wie z. B. bei der Begegnung mit einem fremden Menschen auf der Straße) eine Einstufung dieser Situation in die Kategorien »sicher«, »gefährlich« oder »lebensbedrohlich« ermöglicht. Porges postuliert eine zentrale Funktion des Vagusnervs sowie drei Subsysteme des autonomen polyvagalen Nervensystems, wobei er von einer Hierarchisierung ausgeht. Der Organismus wählt zuerst den neuesten Komplex (ventrovagal) und greift auf den jeweiligen älteren zurück, wenn der neuere nicht funktioniert.
Das ventrovagale (parasympathische) System. Der ventrovagale Zweig des Vagusnerves ist phylogenetisch jünger, myelenisiert und kommt nur in Säugetieren vor. Dieser Zweig steht in Verbindung mit Herz, Lunge und Verdauungssystem und ist in der Lage, sympathische Aktivierungen zu hemmen (die sogenannte »Vagus-Bremse«), da diese in einer sicheren Umgebung nicht notwendig sind und soziale Interaktionen stören. Durch die Regulation sympathischer Reaktionen werden in sozialen Interaktionen Ärger und Angst reguliert und die Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Stressachse) gesenkt. Dieses System ermöglicht eine prosoziale Selbstberuhigung, bewusstes Atmen, sorgfältige Wortwahl und insgesamt bindungsbezogene Annäherung. Darüber hinaus reguliert der Vagusnerv teilweise unsere Gesichtsmuskulatur sowie Muskeln im Mittelohr und in Augenliedern sowie Muskeln beteiligt in der Bewegung des Kopfes. Durch diese Regulation von Mimik ist das ventrovagale System auch in der Lage, nicht nur sich selbst sondern auch anderen Menschen in unsere Umgebung ein Gefühl von Sicherheit und Beruhigung zu vermitteln.
Der Sympathikus aktiviert den Körper und mobilisiert ihn zu den körperlichen Reaktionen Flucht oder Kampf. Der Sympatikus ist ebenfalls myelenisiert, was schnelle Informationsübertragungen ermöglicht.
Das dorsovagale System ist ein Überlebenssystem. Der dorsale Anteil des Vagus ist nicht myelenisiert und interagiert mit dem Hirnstamm, der genetisch »programmiert« ist. Unter Lebensgefahr schaltet der dorsale Vagus unsere phylogenetisch jüngeren Hirnstrukturen über das Hormonsystem aus. Das explizite Gedächtnis wird vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen, dadurch wird die Reaktionszeit verkürzt. Unter Lebensgefahr schaltet der dorsale Zweig des Vagusnerves Herz, Atmung und Verdauung auf Minimalbetrieb: Puls und Blutdruck sinken dabei dramatisch, man atmet kaum noch und die Stoffwechselaktivität wird praktisch eingestellt. Dies führt zu Immobilität (Freezing oder Totstellreflex).
1.2 Emotionale Grundbedürfnisse sind keine konkreten Wünsche
Wir unterscheiden sehr gezielt zwischen konkreten Wünschen und Grundbedürfnissen. Unter »konkretem Wunsch« verstehen wir ein von außen gut sichtbares Geschehen im Sinne einer Szene oder einer bestimmten Handlung, wie etwa »Bitte nimm mich in den Arm« oder »Ich möchte, dass Du heute den Müll runterbringst.« Wünsche sind im Kontext dieser Unterscheidung in der Regel situationsabhängig, eher wenig flexibel und als »Du-Formulierungen« gut darstellbar. Grundbedürfnisse dahingegen sind nicht situations- oder personenabhängig und vor allem als »Ich-Formulierungen« darstellbar. Vielleicht können wir dazu eine kurze Selbsterfahrungsübung machen, einverstanden?
Wir werden eine kleine Imaginationsübung versuchen. Falls Sie bereits Erfahrung mit Imaginationstechniken haben (oder sogar an einem Seminar an unserem Institut zu diesem Thema teilgenommen haben), dann wissen Sie natürlich schon, dass es durchaus empfehlenswert ist, sich zwar bequem hinzusetzen aber sich nicht ganz in den Stuhl »fallen zu lassen«, insbesondere wenn man müde ist. Und Sie wissen auch, dass Imaginationsübungen häufig besser funktionieren, wenn der Übende mit beiden Füßen auf den Boden sitzt und dabei die Augen entweder zumacht oder – wenn dies nicht möglich ist – den Blick auf den Boden richtet. Dann können wir jetzt mit der Übung beginnen!
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