• ST bietet uns ein sehr konkretes Instrumentarium für den Umgang mit den größten Herausforderungen in der Arbeit mit PS: Beziehungsaufbau und Umgang mit Konflikten in der Therapie, Stabilität der Therapiemotivation, Zielklärung, Arbeit mit emotionalen und kognitiven Mustern und Verhaltensmodifikation.
• ST ist auch ein Instrument zur systematischen Selbsterfahrung, denn mit dem Modusmodell lässt sich nicht nur das Verhalten eines persönlichkeitsgestörten Patienten erklären. Einerseits können wir bei der Bearbeitung interaktioneller Probleme zwischen uns und unseren Patienten »die gleiche Sprache« und die gleichen Techniken anwenden, um seine und unsere emotionalen, kognitiven und motorischen Reaktionen zu erklären sowie um den Konflikt zwischen uns zu begreifen. Andererseits bietet es sich natürlich an, auch im Kontext reiner Selbsterfahrung mit dem Modell zu arbeiten und diese Prinzipien auf uns und unsere eigenen Probleme anzuwenden.
• ST ist aufgrund ihrer transdiagnostischen, neurobiologischen und verhaltensanalytischen Fundamente hoch kompatibel mit zahlreichen anderen, nicht nur verhaltens-, sondern im Allgemeinen psychotherapeutischen Techniken und modernen Methoden.
• ST macht Spaß! Die Arbeit mit erlebnisorientierten Techniken wie z. B. Übungen mit mehreren Stühlen stellt eine hervorragende Möglichkeit dar, in verhältnismäßig wenig Zeit einem Menschen zu helfen, eigene Muster besser zu verstehen sowie mit unserer Hilfe aktiv zu intervenieren, um neue Möglichkeiten des Umgangs mit eigenen Gefühlen, Gedanken und Handlungstendezen auszuprobieren. Nicht nur ermöglichen solche Übungen sehr gezielt emotionale Aktivierung, Distanzierung und schaffen Raum für neue Interventionen, sie sind auch sehr lebendig und häufig »spielerisch-erfrischend«, was Patienten und Therapeuten motiviert. Auch das ist eine wichtige persönliche Antwort auf die Frage »Wieso Schematherapie?«: Weil sie Spaß macht! Und ganz nebenbei gesagt: Kinder lernen viel besser und effektiver, wenn sie in einer spielerischen Atmosphäre Spaß haben – wieso soll es bei uns Erwachsenen anders sein?
Der Aufbau dieses Buches und die praktische Anwendung
Dies Buch wurde als praktischer Leitfaden für die psychotherapeutische Praxis konzipiert, »von der Diagnostik und Probatorik bis zur Rückfallprophylaxe«.
Teil I beschäftigt sich in Kompaktform mit den wesentlichen theoretischen Grundlagen. Neben den drei »Säulen« der Schematheorie (Emotionale Grundbedürfnisse, Schemata und Schema-Modi) finden Sie dort die Grundlagen der interpersonellen und kontextuellen Perspektive in der Schematherapie.
Im Teil II finden Sie technische Grundlagen mit einem Überblick aller wichtigen Techniken sowie allgemeine praktische Empfehlungen.
Teil III zeigt Ihnen mit sehr vielen Übungsanleitungen die konkrete Umsetzung vom Erstgespräch bis zur Rückfallprophylaxe.
Sie können das Buch natürlich in der chronologischen Reihenfolge durchlesen. Sie können aber auch gezielt nach bestimmten Techniken im Umgang mit spezifischen Situationen suchen und es als »Nachschlagewerk« verwenden.
1Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).
Teil I: Theoretische Grundlagen
1 Emotionale Grundbedürfnisse
Eine wichtige Annahme der Schematherapie (und möglicherweise der Psychotherapie im Allgemeinen) besteht im Postulat universeller emotionaler Grundbedürfnisse. Universell bedeutet, dass diese so tiefgreifend sind, dass sie in jedem Menschen zu finden sind. Dies schließt natürlich nicht aus, dass von Individuum zu Individuum Unterschiede in der Intensität oder sogar der Priorisierung festgestellt werden können.
Vielleicht stellen Sie sich jetzt die Frage: »Wieso soll man sich mit emotionalen und insbesondere kindhaften Bedürfnissen beschäftigen, wenn man mit erwachsenen Patienten arbeitet?« Weil sich erst durch das mitfühlende Erleben des frustrierten Kindes in seiner damaligen Lebensumwelt die nachfolgend entwickelten Bewältigungsreaktionen verstehen lassen, die sich jetzt in der Interaktion mit dem Therapeuten und anderen Personen im jetzigen Leben wieder zeigen. Das Wissen, dass sich diese Person im Inneren gerade sehr verletzbar fühlt, sich schämt oder sogar panische Angst hat, erneut entwertet oder misshandelt zu werden, kann uns helfen, mit dem vordergründig gezeigten Verhalten effektiver umzugehen und dieses weniger persönlich zu nehmen. Dies kann in der unmittelbaren Arbeit sehr hilfreich sein, z. B. wenn ein narzisstischer Patient uns entwertet oder eine emotional instabile Patientin dissoziiert. Im zweiten Schritt hilft die konkrete Frage »Was hätte dieser Mensch anstelle dessen eigentlich gebraucht«, die aktivierten Bedürfnisse jetzt in der Therapie im Sinne einer korrigierenden emotionalen Erfahrung zu befriedigen. So erleben Patienten, dass es eine Alternative gibt zu ihren automatisierten, dysfunktionalen Bewältigungsreaktionen, und können im Erwachsenenmodus lernen, heute durch funktionales Verhalten ihre ja unverändert vorhandenen Grundbedürfnisse besser zu befriedigen.
In der deutschsprachigen schematherapeutischen Literatur werden Sie vor allem zwei Systematiken finden (
Tab. 1.1):
Tab. 1.1: Emotionale Grundbedürfnisse nach Young (2005) und Grawe (1998)
Grundbedürfnisse nach J. YoungGrundbedürfnisse nach K. Grawe
Das Modell von Young ist vor allem phänomenologisch-deskriptiv und beschreibt emotionale Grundbedürfnisse aus der Perspektive eines Kindes. Grawes Modell beschreibt emotionale Grundbedürfnisse aus erwachsener Sicht, weswegen ein Bedürfnis nach realistischen Grenzen hier kein direktes Korrelat findet. Dieses fehlende Bedürfnis nach realistischen Grenzen in Grawes Modell kann als »Kontrolle und Orientierung nach innen« (d. h. im Sinne von Impulskontrolle) verstanden werden (Roediger 2016). So lassen sich diese zwei Systematiken gut aufeinander beziehen.
Grundbedürfnisse aus einer biologischen Perspektive
Youngs und Grawes Systematiken sind v.a. psychologische Modelle. Emotionale Grundbedürfnisse haben jedoch ein tiefes biologisches Substrat und sind nicht nur menschliche Phänomene. Ich möchte Sie auf die Arbeit von Panksepp (2011) aufmerksam machen: Er unterscheidet auf einer physiologischen Ebene sieben fundamentale neurobiologische Motivationssysteme: Seeking (Neugier-System), Rage (Selbstbehauptungssystem), Fear (sicherheitsorientiertes Selbstschutzsystem), Lust (lustorientiertes System), Care (Versorgungssystem), Panic (Verlassenheitssystem) und Play (Spielsystem). Nach Panksepps Forschung (2011) ist bei drei Systemen das Hormon Oxytocin involviert: Care, Play und Lust (wobei das Verlassenheitssystem Panic eines Kindes mit dem Versorgungssystem auf Bezugspersonenseite interagiert). Oxytocin gilt bekanntlich als »Bindungshormon« und bildet eine biologische Grundlage von Vertrauen und bindungsbezogenem Verhalten (Kosfeld et al. 2005, Strathearn et al. 2009, Buchheim et al. 2009). Die Systeme Seeking, Rage und Fear weisen einen ganz anderen Charakter auf und zeigen eine grundsätzliche Selbstbehauptungstendenz.
1.1 Die dimensionale Perspektive: Bindung und Selbstbehauptung
Einerseits im Sinne einer maximalen Komplexitätsreduktion, andererseits aber auch aufgrund der klinischen Erfahrung in der Umsetzung schematherapeutischer Konzepte wird in diesem Buch mit den zwei vermutlich fundamentalsten, phylogenetisch bedingten Grundtendenzen gearbeitet: Bindung (d. h. liebevoll-entspannte Hinwendung zu anderen im Sinne pro-sozialen Verhaltens) und Selbstbehauptung (d. h. angespannt selbstbezogen-kontrollorientiertes Verhalten).
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