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Wundertüte
n seinem Zimmer saß Lucas auf dem Bett und starrte einen Teller Nudeln an, so als ob dieser ihn soeben tödlich beleidigt hätte. Innerlich tobte ein Wettstreit aus Wut und Scham. Wut über das, was Ines eben gesagt hatte. Unbedacht oder nicht, wie konnte sie auch nur im Ansatz daran denken, dass er Neumanns Leben fahrlässig oder sogar absichtlich gefährdet hätte? In diesem Moment setzte die Scham ein und erinnerte Lucas daran, dass er es hätte überprüfen müssen. Hatte er sich denn sicher sein können, dass er bereits tot gewesen war, nachdem er die Treppe hinunterstürzte? Nein, das hatte er nicht. Diese Schuld würde Lucas von nun an sein ganzes Leben mit sich herumtragen müssen. Egal was sein Vater sagte. Auch wenn sein Mentor noch so tot ausgesehen hatte, als er dort auf dem Treppenabsatz lag. Neumann hätte auch nur bewusstlos gewesen sein können – sich dessen unbewusst, dass eine tödliche Gefahr in Form seines Schützlings auf ihn lauerte.
Lucas stöhnte, schob den Teller von sich weg und griff stattdessen nach dem Rucksack, den er seit Silvester mit sich herumschleppte. Irgendwie hatte dieses unförmige, NATO-oliv gefärbte Ding eine tröstliche Wirkung auf ihn, da ihm inzwischen klar geworden war, dass es Neumann gehört hatte. Lucas vergrub sein Gesicht in dem rauen Stoff. Dann fiel ihm etwas ein und er ließ den Rucksack aufs Bett sinken.
Wie kannst du eigentlich so sicher sein, dass es Neumanns Rucksack ist? Schließlich war da doch das Handy von dem Fiesling Plague drin , stellte die Stimme in Lucas‘ Hinterkopf diesen Einfall infrage.
Ist doch egal. Sie kommt mir einfach unheimlich bekannt vor. Das wäre ja wohl bestimmt nicht so, wenn es die von jemand anderem wäre , würgte er sich selbst gedanklich ab.
Aber woher kam das Handy denn dann?, beharrte die Stimme.
Wahrscheinlich hatte Plague selbst keine Tasche und hat es da eben mit reingepackt, brachte Lucas sie zum Schweigen.
Dann holte er tief Luft und tat etwas, das er – wenn er es recht bedachte – schon viel früher hätte tun sollen. Er öffnete den Rucksack und schüttete dessen Inhalt auf das Bett. Zum Vorschein kam außer einigen undefinierbaren Krümeln, Büroklammern und einer angefangenen Packung Kaugummis noch ein schwarzes Stück Stoff, das wohl ein Halstuch war. Außerdem sah Lucas eine Brieftasche, ein Schlüsseletui, einen kleinen Stecker mit einem daran befestigten Kabel und einen länglichen Gegenstand aus schwarzem Metall. Lucas besah sich zunächst das metallene Ding. Dieses war an der einen Seite griffartig geformt und hatte auf der anderen Seite ein leicht gegabeltes Ende, aus dem kurze glänzende Metallstifte ragten. Interessiert fuhr er mit dem Zeigefinger seiner linken Hand über einen der Stifte. Als er gerade dabei war, sie sich noch einmal genau aus der Nähe anzusehen, betätigte Lucas mit seiner Rechten versehentlich einen Schalter, den er nicht bewusst wahrgenommen hatte. Sofort gab das Gerät ein summendes Zischen von sich. Lucas wurde schmerzhaft geblendet.
Vor Schreck warf er es von sich und schlug stöhnend beide Hände vors Gesicht. Er schloss die Augen, aber die unregelmäßig gezackte Linie, die so plötzlich direkt vor ihm erschienen war, geisterte weiterhin in seinem Gesichtsfeld herum. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde das Geisterbild wieder schwächer. Auch der Schmerz ließ nach. Lucas bückte sich und nahm den Apparat erneut – diesmal aber vorsichtiger – in die Hand. Bevor er noch einmal auf den Schalter drückte, hielt er das andere Ende wohlweislich von sich weg. Wieder erklang das Summen, und Lucas konnte aus sicherer Entfernung einen Lichtbogen erkennen, der sich zwischen den Metallstäben bildete.
Wahnsinn, das muss so ein Elektroschocker sein, wie sie ihn auch in Filmen haben , dachte er fasziniert. Gleichwohl legte er das Gerät beiseite, um sich den beiden anderen interessant aussehenden Gegenständen zu widmen.
Die Brieftasche enthielt außer ein paar D-Mark-Scheinen noch diverse Plastikkarten für verschiedene Zwecke, einen Führerschein und einen Personalausweis. Voller Neugier öffnete Lucas zuerst den mehrfach zusammengefalteten, aus einem undefinierbaren grauen Material bestehenden Führerschein. Er musste unvermittelt lachen, als ihm das Gesicht eines ungefähr 18-jährigen Neumann entgegenblickte. In Gedanken verglich er das Foto mit dem Bild aus seinem Gedächtnis. Der junge Neumann hatte zwar noch keine langen, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare. Im Gegenteil, er hatte sogar Locken. Aber die raubtierähnliche Aura war selbst auf diesem kleinen Bild zu spüren. Immer noch schmunzelnd legte Lucas den Führerschein beiseite und nahm nun den Personalausweis zur Hand. Die Abbildung auf diesem Stück Plastik glich exakt seinem Mentor. Schlagartig wich seine gute Laune wieder der Trauer, die ihn schon seit Tagen begleitet hatte. Dumpf vor sich hinstarrend drehte er den Ausweis in seinen Fingern hin und her. Würde das wirklich niemals aufhören? Dann stutzte Lucas, weil er bemerkt hatte, dass auch auf der Rückseite des Ausweises etwas stand. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, welche Informationen auf so einem Dokument aufgeführt waren, denn selbst hatte er noch keinen. Also besah er sich die Angaben näher. Interessiert stellte er fest, dass dort nicht nur Größe und Augenfarbe, sondern auch die aktuelle Adresse aufgeführt waren. Sofort begann Lucas‘ Herz schneller zu schlagen, denn ihm war eine Idee gekommen. Er würde zu Neumann nach Hause gehen. Vielleicht konnte er dort etwas finden, das ihm helfen würde, die Beweggründe seines Lehrers zu verstehen. Das könnte ihm helfen, wieder Frieden mit sich und der Welt zu schließen.
Lucas sprang auf und blickte zur Uhr an der Wand. Halb Vier – noch nicht zu spät, um einen Spaziergang oder –flug zu machen. Aber Moment, wie sollte er denn dort hinein … Er fuhr herum und schnappte sich das Schlüsseletui vom Bett. Mit zitternden Fingern öffnete er es. Erleichtert ließ Lucas die Luft entweichen, von der er sich gar nicht bewusst gewesen war, dass er sie angehalten hatte. Im Etui befand sich außer mehreren Schlüsseln für Haustüren und einem kleinen Kästchen mit einem Druckknopf auch ein Schlüssel mit der Aufschrift Yamaha. Daran war ein silbern glänzender Anhänger aus den Buchstaben VMAX befestigt. Das mussten Neumanns Schlüssel sein. Lucas konnte sich nur zu gut an die berauschenden Fahrten als Sozius auf seinem Motorrad erinnern. Was für ein Gefühl musste es erst sein, selbst Herr über die unbändige Kraft dieser Maschine zu sein. Als er zusammen mit seinem Vater beim Kartfahren gewesen war, hatte Lucas es schätzen gelernt, als Lenker eines Gefährts im Rausch der Geschwindigkeit seine Runden zu ziehen. Wäre es nicht cool, auch mal auf der VMAX zu fahren? Wenn er doch nur … aber er konnte es doch! Gänsehaut bildete sich auf seinen Unterarmen, als er den Schlüssel aus dem Etui nahm und den Anhänger vor seinen Augen baumeln ließ. Er musste doch nur herausfinden, wo die Maschine am Silvesterabend geparkt worden war. Dann konnte ihn im Prinzip nichts mehr daran hindern, es zu tun.
Hast du sie noch alle? Du weißt doch nicht einmal, wie man so‘n Ding fährt , ließ sich die Stimme in seinem Hinterkopf vernehmen.
Ach was. Feinheiten. So schwer kann das doch nicht sein. Irgendwo finde ich bestimmt ein Buch, wo das drin steht, beendete Lucas die Diskussion mit sich selbst.
Dann machte er sich auf nach unten, um möglichst unauffällig nach einem Stadtplan zu suchen. Die Frage seiner Mutter, ob er ein Stück Kuchen haben wollte, verneinte er mit dem Hinweis darauf, dass er gerade erst die Nudeln gegessen hätte und daher keinen Appetit habe. Dabei bemerkte Lucas, dass er tatsächlich sogar ziemlich großen Hunger hatte. Wieder in seinem Zimmer angekommen nahm er sich daher den Teller, der er vorhin stehengelassen hatte. Sie waren natürlich inzwischen kalt, aber Lucas stopfte sie trotzdem in sich hinein. Danach breitete er den Stadtplan auf seinem Bett aus und suchte nach der Adresse. Kurze Zeit später hatte Lucas sie gefunden – mitten in Kreuzberg am Landwehrkanal gelegen. Das bremste seinen Elan ein wenig, denn Kreuzberg galt nicht unbedingt als das beste Pflaster in Berlin. Aber dann zuckte Lucas für sich mit den Schultern. Er hatte ja schließlich nicht vor, dort umherzuwandern. Er würde fliegen. Schnell schnappte er sich das Meta-Suit, das er am Neujahrsmorgen in seinem Zimmer in die Ecke gefeuert hatte, und zog es an. Ein paar normale Klamotten packte er zusammen mit dem Schlüsseletui in den kleinsten Rucksack, den er finden konnte. Schließlich wollte er nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregen, wenn er damit durch die Lüfte flog. Zufrieden stieg Lucas die Treppe hinunter und wollte gerade in Richtung Haustür gehen, als ihn eine Frage seines Vaters stoppte.
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