»Ja, ich und Harald. Oder denkst du, ich dürres Gerippe kriege allein so nen großen Löwen hin?«
Ines brach in ein erleichtertes Gelächter aus, denn ihr war in diesem Moment ein Stein vom Herzen gefallen. Tief in ihrem Inneren hatte sie nie das geglaubt, was Lucas ihr damals als Erklärung angeboten hatte. Nur hatte sie sich nicht getraut, nachzufragen, aus Angst davor, dass er sie lediglich beruhigen wollte, weil mit ihr etwas nicht stimmte.
Lucas bemerkte, wie ein Teil der Anspannung aus Ines wich. Hoffnungsvoll stimmte er in ihr Lachen ein. Vielleicht konnte ja doch noch alles gut werden.
Nach einer Weile wischte sich Ines die Lachtränen aus den Augen und sagte: »Puh, das war gut. Und wie ging’s dann weiter? Was hat Neumann denn dazu gesagt, dass du nen Löwen kannst?«
»Hatte überhaupt keine Gelegenheit dazu, es ihm zu sagen, und …«
»Na ja, das kannst du ja später nachholen.«
»Ähm Lucas?«, ergänzte Ines, nachdem eine Weile Stille geherrscht hatte. Dann sah sie ihn genauer an und stutzte, denn Lucas war bleich geworden. Tränen rannen in Strömen seine Wangen hinunter.
»Lucas, was ist denn?«, fragte Ines vorsichtig, aber er schüttelte nur den Kopf und schwieg.
Er hatte geglaubt, hatte es inständig gehofft, dass er nach fast zwei kompletten Tagen, in denen er seiner Trauer freien Lauf gelassen hatte, besser mit den Tatsachen umgehen könnte. Aber nichts dergleichen war der Fall. Der Verlust war immer noch wie eine frisch geschlagene Wunde in seiner Brust, durch die sein Lebensmut entwich. Am liebsten hätte er sich einfach fallen lassen, in einen Schlaf, aus dem er nie mehr erwachen musste. Klar, Neumann war letztendlich einer von den bösen Jungs gewesen, aber Lucas konnte einfach nicht vergessen, was er alles für ihn getan hatte.
»Was ist denn nur los mit dir?«, fragte Ines von neuem und berührte ihn sanft am Arm.
Es war diese Berührung ihrer warmen Finger, die es Lucas ermöglichte, sich aus der Abwärtsspirale zu lösen, in die er sich begeben wollte. Er schniefte mit der Nase und hob den Kopf, um Ines anzusehen.
»Neum …« Lucas räusperte sich, weil seine Stimme ihm den Dienst versagte. »Neumann kann ich nix mehr erzählen.«
»Wieso? Na klar, morgen ist doch …«
»Er ist tot!«, sagte Lucas mit erstaunlich fester Stimme, aber viel lauter, als notwendig.
»Waas?«, rief Ines mit weit aufgerissenen Augen, die Hand vor den Mund geschlagen.
»Okay, die Kurzfassung«, sagte Lucas, der sich inzwischen wieder unter Kontrolle bekommen hatte. »Ich bin also in der BAT und kriege mit, dass sich irgendwelche Typen über diese Bombe unterhalten. Leider muss ich abhauen, als die das Gespräch beenden, damit mich keiner sieht. Daher weiß ich nicht, wer das war. Aber ich schaue hinterher in dem Kabuff nach, wo sie sich unterhalten hatten, und entdecke eine Zeichnung. Außerdem habe ich bei dem Gespräch so ein Wort mitbekommen.«
»Weitukäi«, bestätigte Ines.
Lucas stockte kurz, dann aber fiel ihm ein, dass Ines ja in ein Gespräch zwischen ihm und Harald geplatzt war, in dem es um dieses Wort ging. Er nickte.
»Richtig. Wir haben das ja wohl irgendwie beide kapiert, wann und wo es letztendlich abgehen sollte. Wie haben sie dich eigentlich erwischt?«
»Tja, erst hab ich es tatsächlich noch geschafft, aus dem Lieferwagen rauszukommen, ohne dass mich wer sieht. Aber dann habe ich Neumann mit Kevin und Dirk gesehen und bin ihnen hinterher, als sie zur Siegessäule sind. Die haben da von der Bombe gesprochen, und ich wollte doch wissen, was los ist. Plötzlich kommt dieses Monster von hinten und schleppt mich mit rein.«
Lucas hörte interessiert zu. Einerseits, weil es bisher noch keine Gelegenheit gegeben hatte, mit Ines darüber zu reden. Andererseits hoffte er, dass der Schrecken dessen, was er gleich erzählen musste, etwas geringer sein würde, wenn sie sich durch ihre Erzählung wieder ein wenig mit der Situation vertraut machen konnte.
Deshalb fragte er nach: »Warum hattest du eigentlich das Meta-Suit an?«
»Das was?«
»Na den schwarzen Anzug, den du unter deinen Klamotten getragen hast.«
»Ach, dieses komische Ding, das ich erst gar nicht angezogen bekommen habe, weil ich nicht wusste, wo der Einstieg ist?«
»Jep.«
»Das hat mir Herr Neumann gegeben, weil’s da oben so schweinekalt war.«
Und wieder wurde Lucas‘ Kehle bei der Erwähnung des Namens eng. Er schloss resigniert die Augen. Würde das jetzt ewig so weitergehen? Es war doch schließlich nicht mehr zu ändern. Tot war tot. Er öffnete seine Augen wieder und sah jetzt auch in denen von Ines Tränen stehen.
»Aber wie kann das nur sein? Was ist passiert?«, fragte sie.
»Erinnerst du dich noch daran, wie du oben auf der Siegessäule gestolpert bist?«
»Ja. Ich bin da gegen irgend so ein Ding geknallt und dann war ich … weg.«
»Na ja, fast«, bemerkte Lucas. »Das war nicht ein Ding, sondern ich, als ich gerade mitten dabei war, mich umzuwandeln. Da gibt es so eine Phase, in der alles zerfließt. Die musst du wohl erwischt haben.«
Ines klappte der Mund auf. Mit starr auf Lucas gerichtetem Blick stammelte sie: »Du … du meinst … ich war … in … dir drin?«
»Nee, ich glaube eher, dass wir beide eins waren«, entgegnete Lucas. Die Tatsache, dass außer ihr auch noch Harald dabei gewesen war, verschwieg er lieber. »Das war auch der Grund, warum wir miteinander reden konnten.«
»Nein«, stieß Ines hervor und rückte ein Stück von Lucas ab. »Du … wir … das geht nicht.«
»Geht es doch. Ich habe eine wohl sehr seltene Fähigkeit. Ich kann mich mit anderen Lebewesen verbinden und daraus ein großes Ganzes machen. Als du dann anfingst … na ja, ein bisschen hysterisch zu werden …«
»Wärst du das nicht?«, unterbrach Ines ihn.
»Ich hab ja nicht gesagt, dass das falsch war oder so. Aber das war leider das Letzte, was ich in diesem Moment gebrauchen konnte. Die Typen waren fast oben angekommen, und ich wollte sie aufhalten. Da musste ich was tun. Also habe ich dich irgendwo in mir … uns versteckt. Ich weiß nicht wie, aber es war so, als hätte ich dich irgendwo eingeschlossen.«
Lucas stockte einen Moment – innerlich auf eine Schimpfkanonade von Ines gefasst, die aber ausblieb.
»Aha«, machte sie nur, was er als Zeichen wertete, dass er fortfahren konnte. Und er tat es nur zu gern, denn es war seltsam wohltuend, dies mit Ines zu teilen.
»Ja, und dann ging alles total schnell. Ich hab mich denen in den Weg gestellt. Es ist zu einem Kampf gekommen. Plötzlich hat dieser Plague Neumann die Treppe runtergestoßen, um durch die Verwirrung, die daraus entstand, fliehen zu können. Als ich gecheckt habe, dass wir den nicht so ohne Weiteres einholen können, da hab ich mich in einen Zitteraal umgewandelt und ihm einen Stromstoß hinterhergeschickt. Aber dabei habe ich aus Versehen wohl ein bisschen übertrieben und sowohl Plague als auch den auf der Treppe liegenden Neumann zu Asche verbrannt. Danach haben wir es alle zusammen gerade noch so geschafft, diese Bombe wegzubringen, bevor sie losgegangen ist.«
»Was?! Die ist explodiert? Aber wo … wie?«, rief Ines und sprang von ihrer Couch auf.
»Das war keine Bombe, die explodiert«, beruhigte Lucas sie. »Eigentlich war es eher eine Art Maschine, die alle technischen Geräte auf einmal kaputtgemacht hätte oder so ähnlich. Wir waren schon recht nah am Stadtrand, als ich sie aus den Klauen verloren habe, und sie im Fallen losging.«
»Ähm Moment mal. Klauen?«, fragte Ines, die inzwischen in ihrem Zimmer auf und ab ging.
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