Problematisch bei Cassirer bleibt, dass er zur „unbewussten Produktion“ von Geschichte keinen rechten Zugang zu haben scheint. Die am weitesten vorgeschobene Position zur „Dechiffrierung“ von Dingwelten, die zugleich kapitalistisch produzierte Warenwelten sind, hat nach wie vor Walter Benjamin geliefert; insofern besteht überhaupt kein Grund, sich von seinem Denken abzuwenden oder es gegen irgendwelche Gerätschaften aus postmodernen Quincaillerien einzutauschen. Wenn die Dinge ihre „surrealistische“ Miene aufsetzen, besteht ein Moment der Erkennbarkeit. Jetzt ist nicht ein sinnhafter Erwartungs-Horizont die Voraussetzung für eine Rückprojektion auf den Erfahrungsraum der Gegenwart, die Wahrnehmung schließt sich auch nicht zu einer gerundeten „symbolischen Form“ zusammen, sondern innerhalb eines sinnlosen Ganzen tauchen Konfigurationen auf, die als Ausdruck unbewusster Ängste oder Vorahnungen im Umgang mit dem Nicht-Machbaren gelesen werden können. Der Gebrauchswert in seiner bestimmten Form – das Design der Waren – wird vom Wertcharakter gleichsam zensiert; was entsteht, ist ein entstellter Gebrauchswert, der aber in seiner Entstellung zum „Zeichen der Zeit“ werden kann. Benjamin benutzte dafür den Begriff „Phantasmagorie“. Die Entzifferung der Waren als Phantasmagorien der träumenden – ihre Geschichte unbewußt verrichtenden Menschen, das wäre das Benjaminsche Äquivalent zum Kantischen „Geschichtszeichen.“ 24Man kann die Genese der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie als ihre Geburt aus der Frage nach dem Geschichtszeichen verstehen; war damit ihr Sündenfall verknüpft, so kann die Rückgängigmachung dieses Sündenfalls wiederum nur bei der Frage nach der Orientierung in der Geschichte ansetzen.
IV. Geschichtsphilosophie und Kulturgeschichte
Nun bin ich kein „Geschichtsphilosoph“; ich betreibe die Aufarbeitung ihrer Einsichten nicht als Selbstzweck. Es geht mir um eine neue, von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleitete Kulturgeschichte . „Kulturgeschichte“ hat im Rahmen der zünftigen Geschichtswissenschaft nicht unbedingt einen guten Klang; das hängt zusammen mit ihrer Entstehungsgeschichte als Betätigungsfeld für Außenseiter, das hängt auch damit zusammen – Jacob Burckhardt bildet das beste Beispiel dafür – dass sie, bei aller Kritik an Hegel, den Kontakt zur Geschichtsphilosophie nie ganz hat abreißen lassen. Die zünftige Geschichtswissenschaft hingegen hat im Prozess ihrer Professionalisierung im 19. Jahrhundert das Band zwischen sich und der Geschichtsphilosophie zerschnitten. Was auf den ersten Blick wie eine Befreiung aus dem dialektischen Streckbett des Weltgeistes aussieht, musste aber teuer bezahlt werden, denn in der Folge hat sich die Geschichtswissenschaft dem bloß politischen Spektrum bei der Letztverankerung ihrer Fragestellungen ausgeliefert. Sie ist sozusagen vom Niveau des Weltgeistes auf das Niveau der Volksgeister hinabgestiegen – und sie hat es gerne getan. Fragen nach der Verlaufsform der Geschichte als Ganzer wurden als unwissenschaftlich ausgeschieden und damit auch die Einsicht in das Unterworfensein unter den nicht-machbaren Prozess. Ganz im Gegenteil: Das vermeintliche historische Machen-Können auf dem politischen Felde beherrschte das deutsche Denken im Zeitalter des Werdens des Nationalstaates – und die Historiker machten begeistert mit.
Seither sind die Geschichtsschreiber – Ausnahmen bestätigen die Regel – in ihrer Mehrzahl verhinderte Politiker, deren Weltbild in den Wertvorgaben der politischen Richtungen changiert. Hayden White hat diesen Vorgang treffend gekennzeichnet: „Die ‚Theorie‘, auf der die ‚Verwissenschaftlichung‘ beruhte, war nichts anderes als die Ideologie des mittleren Bereichs im sozialen Spektrum, den einerseits die Konservativen, andererseits die Liberalen repräsentierten.“ 25Diese Verankerung an Wertvorgaben ist im Verfahren der Rickert-Weberschen „Wertbeziehung“ zur Methode der Historiker erhoben worden. Ganz gleich, ob sie diese Grundlagen explizit der Untersuchung voranstellen, oder ob der Leser sie aus dem Tonfall der Narration erschließen darf – über diese kulturell/politische Letztverankerung ihres Fragens ist die Geschichtswissenschaft nicht hinausgekommen: „Was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen.“ 26
Gegen dieses Verfahren ist prima facie gar nichts einzuwenden; es gilt als die methodische Grundlage einer soliden Geschichtswissenschaft. „Objektivität“ ist nur in Anführungszeichen zu haben, und die Pluralität der Wertbeziehungen garantiert eine Überprüfung der Resultate im wissenschaftlichen Streit. Allerdings gibt es – auch und gerade bei Max Weber – ein kleines Problem. Ab und zu tauchen Begriffe auf, wie etwa der des „Schicksals“, den man bei einem so rationalen Denker gar nicht erwartet hätte, Begriffe, die ich gerne als Hintergrundmetaphern bezeichnen würde. Denn über den Werten waltet noch etwas anderes. In „Wissenschaft als Beruf“ äußert sich Weber 1919 ganz zeitgemäß zu den Wertgrundlagen der Gegner des großen Krieges: „Wie man es machen will, ‚wissenschaftlich‘ zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit. Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt. (…) Und über diesen Göttern und ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine ‚Wissenschaft‘.“ War vielleicht die Welt doch nicht so entzaubert, wie Weber gedacht hatte, so dass er nun nach einem göttlichen oder dämonischen Äquivalent für Begriffe sucht, die er vormals in Anlehnung an Heinrich Rickert und Emil Lask stolz aus dem Tempel der Wissenschaft hinausgewiesen hatte? 27Und was ist damit gewonnen, wenn man zwar eine emanatistische Vernunft vor die Tür setzt, dafür aber durch die Hintertür ein Schicksal wieder hereinlässt? Denn auf den ersten Blick ist erkennbar, was es mit diesem „Schicksal“ auf sich hat: Es ist der ent-teleologisierte, nun irrational gewordene Ausdruck für die Übermacht des historischen Prozesses, für die Nicht-Machbarkeit des Ganzen bei rationaler Typisierung des Einzelnen.
Man kommt offenbar, nur darauf sollte hingewiesen werden, ohne Begriffe für das „Ganze“ der Geschichte nicht aus. Die Reduktion auf die Wertbeziehung lässt sich nicht stringent durchhalten, weil ihr die Form der Geschichte nicht entspricht. Man kritisiert die Geschichtsphilosophie nicht ungestraft. Was als „Teleologie“ – und zwar zu recht – kritisiert wird, taucht unbegriffen als „Schicksal“ hinter dem Rücken wieder auf. Max Weber ist nicht so eindeutig, wie manche möchten. Bedenklich ist nur, dass sich seine Methode zu einem vermeintlichen Wissen verfestigt hat, das vor allem eines weiß: Geschichtsphilosophie ist dogmatisch und antiquiert. Alle Vorurteile, die man über die „altdeutsche Geschichtsphilosophie“ zusammenkramen kann werden ausgebreitet, zumal dann, wenn Beiträge zu diesen Fragen nur zur Kenntnis genommen werden, wenn sie im eigenen Hausorgan erscheinen. 28Letztlich ist auch die Abwehr von „Geschichtsphilosophie“ nur ein Nebenkriegsschauplatz auf einem Felde, bei dem es um etwas ganz anderes geht: um die Definitionsmacht, was als „Geschichtsschreibung“ gelten darf und was nicht.
Um wenigstens ein Missverständnis auszuräumen: Keinesfalls kann „Geschichtsphilosophie“ ein privilegiertes Wissen für sich in Anspruch nehmen; es ist auch nicht an ihre alten Antworten anzuknüpfen, sondern es geht um die Rettung der Problemstellung, die diesen Antworten zugrundelang und immer noch zugrunde liegt. Nur müssen die Antworten heute anders aussehen. Der Rückgang von Hegel auf Kant, die Einbeziehung von Cassirer und Ricœur zeigen ja gerade, dass ein teleologisch geschlossener Horizont auch in einem Denken, das sich auf das „Ganze“ von Geschichte erstreckt, weder möglich noch wünschenswert ist. 29Wenn das aber so ist, wenn die auf das Ganze von Geschichte projizierten Erwartungshorizonte (so wie Kant es gesagt hatte: Wir können auf das Ganze zwar unsere Ideen, nicht aber unser Handeln erstrecken; vgl. Anm. 4) sich wechselseitig kritisieren, dann kommen wir zu einem neuen Pluralismus, der sich von dem Rickert-Weberschen Pluralismus der Wertbeziehungen durch die Reichweite seiner Entwürfe unterscheidet. Weber wollte „Ordnung“ in das „Chaos“ bringen; er konzentrierte sich auf das Handeln, ließ aber ungewollte Nebenfolgen des Handels übrig. Der hier vorgeschlagene aus einer erneuerten Geschichts-philosophie vorgetragene Ansatz konzentriert sich von vornherein ebenso sehr auf die „ungewollten Nebenfolgen“ des Handelns – allerdings auch der Bewegung von Dingen, wie Marx es ins Auge gefasst hatte – behauptet aber nicht mehr, sie auf den Begriff bringen zu können, als ob er der Weltgeist wäre (vgl. Anm. 14).
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