„Was kann es heißen, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt? Die Frage betrifft die Gegenwart; das Material, an dem sie bearbeitet wird, sind aber geschichts-philosophische Entwürfe aus der Zeit zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert“, schrieb Kittsteiner 2004 zur Einführung. Er ging in seinen Studien den Reaktionen auf eine menschengemachte, aber außerhalb menschlicher Kontrolle sich vollziehenden Geschichte nach. Angesichts einer Dynamisierung der Geschichte in der Moderne – „dem Einbruch des Kapitalismus in die bisherige Geschichte“ – wollen die immer wiederholten Versuche der ‚Sinngebung des Sinnlosen‘, seien es Selbsttäuschungen oder Selbstermächtigungen, nicht gelingen. „In Frage steht, was aus dieser nicht-kontrollierbaren Geschichte werden kann. Darauf weiß dieser Sammelband keine Antwort; er möchte nur einstimmen in eine Denkhaltung, mit diesem Prozess zu leben, sich an die Beleidigung des homo faber zu gewöhnen, dass er seines eigenen historischen Werdens nicht Herr ist.“ – Die Frage betrifft die Gegenwart.
H. D. Kittsteiner, geboren 1942 in Hannover, lebte ab 1965 in Berlin, wo er 2008 verstarb. Er begann sein Studium bei Ernst Bloch, wurde 1978 bei Jacob Taubes promoviert, 1988 bei Reinhart Koselleck habilitiert. Professor für Vergleichende Europäische Kulturgeschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Sein Werk und seine zahlreichen Publikationen werden in einer ausführlichen Bibliographie im Anhang dieser Neuausgabe von „Out of Control“ gewürdigt.
J. Wagner, Historiker und Kulturwissenschaftler, studierte und arbeitete an der Europa-Universität Viadrina. Forschungen an den Nachlässen von H. D. Kittsteiner und Felix Hartlaub. Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung.
Mit Dank an Richard Faber für Anregung und Rat.
H. D. Kittsteiner
Out of Control
Über die Unverfügbarkeit des
historischen Prozesses
Herausgegeben und mit einem Vorwort
von Jannis Wagner
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, Berlin
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ePub:
ISBN 978-3-86393-579-5
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Print: ISBN 978-3-86393-119-3
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Jannis Wagner: Vorbemerkungen zur Neuausgabe von Out of Control
Zur Einführung
I.Geschichtsphilosophie
1.Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie
2.Freiheit und Notwendigkeit in Schellings ‚System des transcendentalen Idealismus‘
3.Jacob Burckhardt als Leser Hegels
II.Geschichtsdenken nach dem Ende der teleologischen Sekurität
1.Ist das Zeitalter der Revolutionen beendet?
2.Romantisches Denken in der entzauberten Welt
3.Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen
4.Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung
5.Erkenne die Lage: Über den Einbruch des Ernstfalls in das Geschichtsdenken
III.Geschichte und Gedächtniskultur
1.Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte
2.„Gedächtniskultur“ und Geschichtsschreibung
IV.Coda
Empire. Über Antonio Negris und Michael Hardts revolutionäre Phantasien
Bibliographie H. D. Kittsteiner
Jannis Wagner
Vorbemerkungen zur Neuausgabe von Out of Control
„Es gibt keine Vernunft in der Geschichte. Das Ziel und das innere Zentrum der Geschichte sind leer.“ Kittsteiner
Out of Control – der einprägsame englische Titel irritiert zunächst bei einem Band mit Aufsätzen, die von einem sehr deutschen Traditionsbestand geschichtsphilosophischen Denkens ausgehen. Doch was ist außer Kontrolle? Der Untertitel verweist auf die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses . Geht man Kittsteiners Schriften durch, taucht die titelgebende Wendung bereits 1982 in einer in englischer Sprache publizierten Rezension auf. Nicht der Mensch sei mehr das Subjekt der Geschichte, schreibt Kittsteiner hier, „today history is the active subject of history – and man is submitted to a strange process, which is out of control. Its (sic!) just the process of capitalist accumulation which Marx declared to be the ‚self-moving substance‘ of history.“ 1Gerahmt von einigen der zentralen Themen Kittsteiners, tritt diese Formulierung hier erstmals auf. Der Rückgriff Kittsteiners in die eigene, scheinbar ferne Textgeschichte, verweist auf eine Charakteristik seines Werkes: die fortgesetzte Auseinandersetzung mit einem festen Bestand von Grundfragen. Der erstmals 2004 erschienene Sammelband Out of Control hat insofern eine jahrzehntelange Vorgeschichte. In der Einführung ist ausgesprochen, dass dieser Titel zudem auf einen anderen reagiert: Saskia Sassens Losing Control? Sovereignty in an Age of Globalization von 1996, das vom Souveränitäts- oder eben Kontrollverlust der Nationalstaaten in der Globalisierung handelt. Kittsteiner fragt hier nach: „Losing control? Welche Kontrolle? Hatte sie jemals bestanden?“ Seine Antwort ist der Titel dieses Buches: „Die Geschichte im Zeitalter des Kapitalismus war nie unter Kontrolle der Menschen, darum ist ein Verlust nicht zu beklagen. Aus der Frage ‚Losing Control?‘ wird dann die konstatierende Aussage ‚Out of Control‘.“ 2
Dies ist, über Jahrzehnte wiederholt, ein Kernthema in Kittsteiners Werk und kennzeichnet seinen intellektuellen Entwicklungsweg. Denn bedenkt man, wo dieser seinen Ausgang nahm, war eine solche Überzeugung keineswegs selbstverständlich. Vielleicht aber kann man sie als naheliegend bezeichnen: Kittsteiner, 1942 geboren, begann sein Studium 1962 in Tübingen bei Ernst Bloch, wechselte bald nach West-Berlin und wuchs so in die Studentenbewegung hinein. Wie er in autobiographischen Texten wiederholt betonte, 3kannte er den Impuls, Geschichte ‚machen‘ zu wollen oder vermeintlich gar zu müssen, aus eigener Erfahrung. Die Negation dieser Möglichkeit war also auch eine Revision vergangener eigener Überzeugungen und ihre Dringlichkeit für Kittsteiner erschließt sich daraus, dass er sie ins Zentrum seiner Arbeit rückte.
Der hier wieder vorgelegte Band gehört ins Vor- und Umfeld eines Forschungsvorhabens, das Kittsteiner in der eingangs zitierten Rezension von 1982 bereits implizit benannt und in Ansätzen skizziert hatte: Die Stufen der Moderne . In ihm verfolgte Kittsteiner die Frage weiter, in die er seine bei dem stets an Geschichtsphilosophien interessierten Jacob Taubes verfasste Dissertation Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens hatte münden lassen und auf die er auch in der Einführung zu Out of Control wieder verwies: „Schlägt man sich die Vorstellung aus dem Kopf, ihres [der Geschichte, JW] inhaltslosen Prozesses irgendwann Herr werden zu können, so kommt es auch nicht mehr auf die Aufgabenstellung an, sie durch ‚gesellschaftliche Praxis‘ auf einen imaginären Kontrollzustand zu bringen, sondern man muß nach neuen Bestimmungen suchen, was es heißen kann, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt.“ 4
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