Vicos Lösung liest sich wie eine Vorwegnahme des Adam Smith und wiederholt sich in den Grundlagen der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis zu Hegel und Marx. Das Grundmotiv dieses Nachdenkens über Geschichte war es, dass dem Nicht-Machbaren eine gnädige „List der Vernunft“ zur Hilfe kommt, ein Prinzip, das das nicht-intendierte Resultat menschlichen Handelns zum eigenen bewussten Zweck einer fremden Instanz hinter unserem Rücken umbiegt. 10Paul Ricœur urteilt darüber, der Ausdruck „List der Vernunft“ mache uns nicht einmal mehr neugierig, „er stößt uns eher ab, wie der mißratene Trick eines auftrumpfenden Zauberkünstlers.“ 11Offensichtlich hatte die Geschichtsphilosophie eine richtige Diagnose der historischen Verlaufsform und ihrer Zeitstruktur seit etwa 1780 gegeben; sie ist die erste Wissenschaftsform, die auf dieses Dilemma reagiert. Zugleich hatte sie sich aber an einer Therapie versucht, die nicht zu halten war.
Es gibt keine Vernunft in der Geschichte. Das Ziel und das innere Zentrum der Geschichte sind leer.
Im Jahre 1996 erschien eine Vorlesungsreihe der linksliberalen amerikanischen Ökonomin Saskia Sassen unter dem Titel: „Losing Control?“ Der Untertitel „Sovereignity in an Age of Globalization“ verrät ihren Ausgangspunkt. Es hat einmal eine traditionelle Souveränität der Nationalstaaten gegeben, aber es gibt keine mehr. „State sovereignity, nation-based citizenship, the institutional apparatus in charge of regulating the economy, such as central banks and monetary policies – all of these institutions are being destabilized and even transformed as a result of globalization and the new technologies.“ 12Sassen fragt, was aus diesen Insignien des Staates geworden sei, aus seiner Souveränität, aus der territorialen Exklusivität, aus der Staatsbürgerschaft seiner Bürger. Sie antwortet, dass große Teile der Souveränität auf supranationale Organisationen wie GATT oder WTO übergegangen sind, und dass mit der Globalisierung der Kapitalmärkte eine „economic citizenship“ entstanden sei. Eine profitorientierte Gesellschaft von globalen Spielern, 13deren neue Finanzinstrumente für den Fluss der globalen Kapitalströme die Kontrolle der Zentralbanken für die Geldmengenregulierung und die Investitionsanreize unterhöhlt haben. 14Fast scheint es so, als stünden wir wieder vor der Ausgangsfrage des John Maynard Keynes, nur unter verschärften Bedingungen. Wenn die globalen Finanzmärkte höhere Profite erbringen als Investitionen in die Produktion, dann wird die Entwicklung eines Landes das Nebenprodukt „of the activities of a casino“. 15Losing control?
Welche Kontrolle? Hatte sie jemals bestanden? Es gibt in Hegels Rechtsphilosophie den berühmten Übergang vom Staat in die Weltgeschichte. In 339 Paragraphen hatte der Meister das Kunstwerk seines idealen Staates mit Fleiß aufgebaut und das System der „substanziellen Sittlichkeit“ entfaltet, in dem die partiellen Interessen des Bürgers mit dem Allgemeinen in Übereinstimmung gebracht werden sollen. Und nun, im § 340, wird all das wortwörtlich aufs Spiel gesetzt – „ein Spiel, worin das sittliche Ganze selbst, die Selbständigkeit des Staates, der Zufälligkeit ausgesetzt wird.“ Nur der Trost, dass auch in diesem Spiel noch „Geist“ sei, kann Hegel sagen lassen, das Recht dieses Weltgeistes sei das höchste und die Weltgeschichte sei das Weltgerichte . 16Schon Marx hatte erkannt, dass dieser Weltgeist in Wahrheit der Weltmarkt ist. 17Auf Hegels Trost wird man daher verzichten müssen, wenn das Spielcasino mit Aktien und Derivaten sich als Weltgericht etabliert hat. Zugleich wird deutlich, dass das Bewusstsein, einem nicht kontrollierbaren Prozess unterworfen zu sein, sehr viel älter ist, als das Abschätzen der Folgen der Globalisierung. Grundlage bleibt die Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte, und diese Einsicht ist in den Theorien der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel in einer Prägnanz ausgedrückt, die manches gegenwärtige Verwundern über den Verlust der „Kontrolle“ obsolet erscheinen lässt. Die Geschichte im Zeitalter des Kapitalismus war nie unter Kontrolle der Menschen, darum ist ein Verlust nicht zu beklagen. Aus der Frage „Losing Control?“ wird dann die konstatierende Aussage „Out of Control“.
In Frage steht, was aus dieser nicht-kontrollierbaren Geschichte werden kann. Darauf weiß dieser Sammelband keine Antwort zu geben; er möchte nur einstimmen in eine Denkhaltung, mit diesem Prozess zu leben, sich an die Beleidigung des homo faber zu gewöhnen, dass er seines eigenen historischen Werdens nicht Herr ist. Nur eines kann nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gesagt werden: Die Versuche, die Geschichte unter Kontrolle zu bringen, waren immer noch schlimmer als der unkontrollierbare Prozess selbst. Es geht offenbar darum, ein Denken zu entwickeln, das sich von Kontroll- und Machbarkeitsvisionen verabschiedet und es lernt, kleine Korrekturen an der Richtung des Geschehens vorzunehmen, sozusagen Reparaturen bei laufendem Motor. 18
Damit sind wir auch bei der Ausgangsfrage dieser Sammlung von Aufsätzen aus den letzten zehn Jahren angelangt. Sie alle umkreisen eine Problemstellung, die dem Autor seit dem Schlusssatz seiner Dissertation aus dem Jahre 1980 nachhängt: Was kann es heißen, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt? 19Die Frage betrifft die Gegenwart; das Material, an der sie bearbeitet wird, sind aber geschichts-philosophische Entwürfe aus der Zeit zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. In dem Versuch zu einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Epochengliederung der europäischen Geschichte zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert würde diese Zeitspanne zwei Perioden umfassen. Zur Erläuterung: Ich unterscheide eine „Stabilisierungsmoderne“ mit ihrem Zentrum etwa zwischen 1640 und 1720 von einer „evolutiven Moderne“, die mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzt und die etwa bis 1880 reicht. Gemeint ist die Zeit der ökonomischen und politischen Doppelrevolution, der institutionellen und ökonomischen Dynamisierung der Geschichte. Diese einmal begonnene Stufe des Kapitalismus hat bis heute nicht aufgehört zu wirken; insofern ist sie nicht abgeschlossen und niemals abschließbar. Sie wird seit dem späten 19. Jahrhundert jedoch überlagert von einer zivilisationskritischen Einstellung, für die Nietzsche einer der entscheidenden Stichwortgeber war. Ich nenne sie die „heroische Moderne“. Als ihren Grundzug betrachte ich die Einsicht, dass der geschichtsphilosophische Synergismus eines Hegel nicht mehr gültig ist. Die Geschichte hilft nicht mehr mit, ist keine „List der Vernunft“ hinter unserem Rücken; alles was getan werden kann, muss gegen sie durchgesetzt werden. Dafür braucht man keine Menschen, sondern über-menschliche Kräfte. Das war die Zeit der „Heroischen Moderne“, in der gerne vom Neuen Menschen und seiner historischen Sendung fabuliert wurde. 20Die heroische Moderne ist ungleichzeitig zu Ende gegangen; im Westen schwand sie seit 1945 dahin. Im Herrschaftsbereich der UdSSR hielt sie sich noch bis 1989/90. Dort durften die Sozialisten noch länger heroisch bleiben. 21
Ich spreche nicht von einer Moderne und auch nicht, wie Ulrich Beck, von einer ersten und zweiten Moderne, sondern spalte den Begriff in historische Schichten oder Stufen auf. Stellt man die Frage so, dann kommt es darauf an herauszuarbeiten, was die Menschen in diesen verschiedenen Formen der Geschichte als ihre „Grundaufgabe“ 22betrachtet haben, wie sie es mit der Geschichte aufnehmen wollten. Diese Aufgaben verändern sich mit der Formveränderung der Geschichte. Was die „Stabilisierungsmoderne“ betrifft, so hat Theodore K. Rabb sie auf den prägnanten Punkt gebracht: Es ging in der Mitte des 17. Jahrhunderts um die Stabilisierung einer krisenhaften Zeit auf allen Gebieten. 23Daran zeigt sich übrigens, dass diese Stufen der Moderne sich in ihrer Aufgabenstellung durchdringen. Die Kontrolle über Krieg und Krise ist niemals endgültig; es wandelt sich nur die Fragestellung, wenn die Form der Geschichte sich ändert. Die Idee einer Stabilisierung ist in der „evolutiven Moderne“ nicht aufgegeben, sie ist lediglich an das Ende des historischen Prozesses verlegt. Jetzt stellt sich die Alternative so: entweder mit dem dynamischen Fortschritt liberal mitzugehen und ihn selbst als die Lösung aller Probleme zu betrachten – oder aber dem Kapitalismus eine neue Gesellschaftsform entgegenzusetzen. Für Marx als den Schüler Hegels sollte aus dem Prozess selbst die Revolution entspringen: Der Übergang aus einer entfremdeten „naturwüchsigen“ Geschichte in eine Assoziation von Produzenten, die dann ihre eigene historische Entfaltung unter Kontrolle gebracht haben würden. 24Aber selbst dafür musste der historische Prozess in Form des tendenziellen Falls der Profitrate die krisenhafte Vorbedingung liefern. Auch bei Marx stand die Geschichte insofern noch unter der Herrschaft der „allpfiffigen Vorsehung“, so sehr es ihn auch belustigte, wenn andere, wie etwa der Utilitarist Jeremy Bentham sich dieser Denkfigur bedienten. 25
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