»Wer hat Sie hereingelassen?«
Oberland hatte eine leicht gebückte, devote Haltung. »Oberst Latour hat mich bei Ihrer Majestät, der Kaiserin, angekündigt.«
»Das muss mir entgangen sein«, entgegnete Ida kühl. Sie wusste über alle Audienzen und andere Verpflichtungen von Elisabeth Bescheid.
»Oberst Latour hatte die Freundlichkeit, der Kaiserin zu bestellen, dass ich ihr etwas übergeben möchte.« Er zog ein flaches Päckchen aus seinem schwarzen Rock. Es war in festes, graues Papier eingeschlagen und mehrfach mit Faden umwickelt. Ein dickes, grünes Siegel prangte über dem Knoten der Verschnürung.
Idas Blick wanderte von dem Päckchen zu den wässrigen Augen des Mannes. Es rührte sie, wie er mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick dastand.
»Ich bitte Sie, ich muss zur Kaiserin und das hier in ihre Hände legen.« Oberlands Stimme war ein leises Flehen.
»Das ist am heutigen Tage unmöglich.« Die Hofdame stellte sich vor die Tür des Zimmers, in dem Elisabeth lag, um ihm ohne weitere Worte klarzumachen, dass er gehen sollte.
»Bitte«, wiederholte er leise. »Es ist von großer Dringlichkeit. Glauben Sie mir!«
»Geben Sie mir, was Sie für die Kaiserin haben. Ich werde es an sie weiterleiten.« Ida streckte die Hand nach dem Päckchen aus, aber Oberland zog es zurück.
»Nein, nein, nein, ich muss es ihr persönlich geben und dazu eine sehr vertrauliche Mitteilung machen.«
»Suchen Sie um eine neue Audienz an.« Ida konnte mit ihren 26 Jahren bestimmter auftreten, als ihre mädchenhafte Erscheinung erwarten ließ.
Alfred Oberland hob an, etwas zu sagen, unterließ es dann aber. Er wandte sich um und schritt zum Ausgang. Grüßend nickte er ihr noch einmal zu, bevor er die Türe öffnete und die Stufen hinunterging.
Kurz darauf war er im Park von Schloss Schönbrunn verschwunden.
29. Mai 1866
02 
Latour wusste, dass er keine Schuld an dem trug, was die Kaiserkinder an diesem Tag hatten mitansehen müssen. Er konnte doch nicht ahnen, dass der Mann vor Gisela und Rudolfs Augen tot umfallen würde.
Josef Latour war erst seit einigen Monaten von Elisabeth mit der Erziehung des Kronprinzen betraut worden. Er wusste, dass sie seine Besetzung gegen den Widerstand des Kaisers durchgesetzt hatte. Man erzählte sich im Schloss, Elisabeth hätte dem Kaiser ein Ultimatum gestellt: Entweder sie durfte allein darüber entscheiden, wo sie wohnte, wohin sie reiste und von wem der Kronprinz unterrichtet wurde, oder sie würde Kaiser Franz Joseph verlassen.
Der Kaiser hatte nachgegeben. Ob aus Liebe oder Angst vor dem Skandal, konnte Latour nicht einschätzen.
Und nun dieser schreckliche Vorfall. Dabei hatte alles wunderbar begonnen.
Alexander, der junge Naturkundelehrer, hatte vorgeschlagen, mit Rudolf einen Ausflug zu machen. Um ihm das Leben der Bienen näherzubringen, wollte er mit dem Kronprinzen und Latour seinen Vater besuchen, dessen große Leidenschaft die Imkerei war.
Kronprinz Rudolf und seine zwei Jahre ältere Schwester Gisela wurden getrennt unterrichtet. Die Erzherzogin hatte einen weiblichen Hofstaat, der sich um ihre Ausbildung kümmerte. Die Geschwister sahen sich nur noch selten, und das schmerzte sie sehr. Rudolf beklagte sich oft darüber, wie sehr er seine Schwester vermisste. Der Ausflug war auch dafür gedacht, den beiden einen gemeinsamen Tag zu ermöglichen. Kaiserin Elisabeth hatte Latour ausdrücklich ihre Zustimmung erteilt. Ob sie mit dem Kaiser darüber gesprochen hatte, darauf wollte Latour allerdings nicht wetten.
Den ganzen Hinweg war der kleine Kronprinz so vergnügt gewesen, wie es ein Siebenjähriger nur sein konnte. Er genoss die Kutschenfahrt und redete die ganze Zeit vom Honig, den er so gerne aß. Gisela war neugierig, wie echte Bienenwaben aussahen. In den letzten Monaten hatte Latour öfters solche Momente erlebt. Es waren Momente, in denen er erkannte, dass Rudolf und Gisela gewöhnliche Kinder waren, unbeschwert und unberührt von der komplizierten Welt der Erwachsenen. Dann schmerzte es Latour manchmal, wenn er daran dachte, was diese Welt für die beiden Kinder, vor allem für Rudolf, bereithielt.
Latour und Alexander waren mit den Kaiserkindern zu einem Fuhrwerkerhaus gefahren, nicht unweit des Praters.
»Fuhrwerke gibt es dort schon seit einer Generation nicht mehr«, erzählte Alexander, als sie in die Straße einbogen, in der das Haus lag. »Mein Vater war der erste in der Familie, der ein Universitätsstudium absolvierte. Doch seine große Liebe gilt der Imkerei.«
Alexanders Mutter, eine rundliche Frau mit rosigen Backen, hatte die Gäste empfangen und tief vor den kaiserlichen Hoheiten geknickst. In der Küche warteten auf einem Tisch mit Honigcreme gefüllter Kuchen und Limonade, die mit Honig gesüßt war. Zwei Gläser Honig standen zum Mitnehmen bereit.
Als hätten sie seit Tagen nichts zu essen gehabt, machten sich die Kinder über Kuchen und Limonade her.
Alexanders Vater kam aus dem Garten und begrüßte die hohen Besucher. Er schwitzte und sein kragenloses Hemd klebte an seinem Rücken. Auf Latour machte er einen nervösen Eindruck. Vermutlich hatte seine Aufregung mit den Kaiserkindern zu tun. Seine Frau bot ihm Kuchen und Limonade an, aber ihr Mann lehnte alles ab.
Durch eine niedrige Tür traten sie ins Freie. Der Imker zeigte ihnen eine Holzkiste, die an der Oberseite einen Deckel hatte.
»Die neueste Technik der Imkerei«, erklärte er und zog Holzrahmen heraus. »In diesen Rahmen bauen die Bienen aus Wachs ihre Waben. Sind sie mit Honig gefüllt und verschlossen, kann ich sie herausnehmen. Ich kratze die Wachsdeckel ab und stelle die Rahmen in diese Schleuder. Auch sie ist brandneu. Erst vor einem Jahr wurde sie vorgestellt und ich habe eine der ersten erstehen können.«
Die Schleuder war eine nach oben hin geöffnete Trommel mit einer Kurbelmechanik. Rudolf und Gisela durften beide an der Kurbel drehen und die leere Schleuder in Betrieb sehen.
Höhepunkt der ungewöhnlichen Unterrichtsstunde war der Besuch bei den Bienenstöcken.
»Für den Besuch der kaiserlichen Hoheiten habe ich mir etwas Besonderes ausgedacht«, verkündete der Imker. »Zum ersten Mal in diesem Jahr werde ich einen vollen Rahmen aus einem Stock entnehmen. Die Hoheiten müssen mir dann helfen, den Honig herauszuschleudern.«
Er führte die Besucher zu einem Strauch, wo ein Tisch und zwei Stühle bereitstanden. Rudolf und Gisela setzten sich und konnten wie im Theater zu den Bienenstöcken sehen, die sich zehn Meter entfernt befanden.
Der Imker hatte ein graues Arbeitsgewand übergestreift, bei dem Ärmel und Hosenbeine an den Gelenken eng verschlossen werden konnten. Danach setzte er sich einen Hut auf, von dessen Krempe ein dünner Schleier auf seine Schultern herabfiel.
Auf dem Tisch wartete ein blauer Henkelkrug mit einer aufgemalten weißen Biene.
»Die ist aber groß«, stellte Gisela fest. »Und so schön gemalt.«
»Ein Imker hat immer kaltes Wasser bereit«, erklärte Alexanders Vater. »Es muss sehr kalt sein, denn falls mich eine Biene sticht, kann ich den Stich sofort damit kühlen.«
Augenzwinkernd fügte er hinzu: »An einem so warmen Tag dient es mir aber vor allem, um den Durst bei der Arbeit zu stillen.« Zum Beweis nahm er einen großen Schluck. Danach schüttelte er den Krug und warf einen Blick hinein.
»Kaum noch etwas drin«, stellte er ein wenig verlegen fest. »Die Vorbereitungen haben mich durstig gemacht… Ich werde ihn später nachfüllen.«
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