Laura Späth hat Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft in München studiert. Sie forscht zur Scham und setzt sich mit ihr als sozialem Phänomen und ihrem Wandel in der gegenwärtigen Gesellschaft auseinander. Auch in ihrem Podcast Unverschämt & Unbesprochen unterhält sie sich mit verschiedenen Gästen über unterschiedliche Formen der individuellen und gesellschaftlichen Scham. Sie schreibt seit vielen Jahren feministische und politische Texte für Magazine und Blogs und steht immer wieder mit ihren Poetry Slams auf der Bühne.
Die Printausgabe ist nachhaltig und klimapositiv gedruckt. Mehr Informationen dazu sind auf der letzten Seite des Buches zu finden.
LAURA SPÄTH
1. Auflage 2021
Copyright © 2021 &Töchter UG (haftungsbeschränkt), München
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.
Umschlaggestaltung: Sigl Affairs, München
Lektorat: Sarah Zechel & Laura Nerbel, &Töchter
Satz: Sarah Zechel, &Töchter
eISBN 978-3-948819-51-4
Auch als Printausgabe erhältlich.
www.und-toechter.de
VORBEMERKUNG VORBEMERKUNG Scham ist kein angenehmes Thema, das gleich vorweg. Schamgefühle sind individuell. Auch wenn ich in diesem Buch versuche, sie gesellschaftlich zu kontextualisieren, gibt es doch mehrere sehr subjektive Faktoren, die unsere Scham beeinflussen: unsere Vorgeschichte, die Verfasstheit unserer Psyche, unsere Gene, unser Charakter, unsere Sozialisation und nicht zuletzt unsere Entscheidungen. Genauso individuell, wie unsere Schamgefühle sind, sind auch unsere Geschichten – klar. Auch das, was uns bewegt, ist unterschiedlich, was uns berührt, beschäftigt, was uns wehtut, uns verletzt. Deshalb will ich an dieser Stelle keine explizite »Trigger-Warnung« aussprechen. Ich kann nicht vorhersagen, was die Lesenden an unangenehme Erfahrungen erinnert oder was möglicherweise retraumatisierend wirkt, was sie »triggert«. Gewalt kann man nicht dadurch begegnen, dass man sie verschweigt. In diesem Buch werden Gewaltschilderungen eine Rolle spielen, sexualisierte Gewalt, Stalking, Ausgrenzung, Depressionen, Essstörungen und andere psychische Erkrankungen. Und es werden Suizidgedanken thematisiert. Denn all das kann eine Rolle bei und für Scham spielen. Es kann sein, dass du während des Lesens auf die Darstellung oder Erläuterung eines Schamgrundes oder -phänomens wartest, die nie kommen wird. Weil ich sie nicht erlebt habe, du aber schon. Dann hoffe ich, dass andere Texte und Bücher diese hier verbleibenden Leerstellen bearbeiten. Außerdem bemühe ich mich zwar an so vielen Stellen wie möglich bei meiner Version der Geschichte zu bleiben, wie ich sie erlebt und wahrgenommen habe. Aber zum Schutz der Persönlichkeitsrechte anderer habe ich an einigen Stellen fiktionale, verfremdende Elemente in die Erzählung eingefügt und Details abgeändert.
Kapitel EinsSÄEN Kapitel Eins SÄEN Die Sinnlosigkeit des Erlebten in dem Moment, in dem man es erlebt, vervielfacht die Möglichkeiten des Schreibens. ANNIE ERNAUX
Kapitel ZweiKEIMEN
Kapitel DreiWURZELN
Kapitel VierAUSTREIBEN
Kapitel FünfGEDEIHEN
Kapitel SechsBLÜHEN
Kapitel SiebenÜBERWÄSSERN
Kapitel AchtWELKEN
Kapitel NeunGIESSEN
Kapitel ZehnPFLEGEN
EPILOG
ENDNOTEN
WEITERFÜHRENDE LITERATUR
Für die, die nie über mich gelacht
haben, sondern mit mir.
Scham ist kein angenehmes Thema, das gleich vorweg.
Schamgefühle sind individuell. Auch wenn ich in diesem Buch versuche, sie gesellschaftlich zu kontextualisieren, gibt es doch mehrere sehr subjektive Faktoren, die unsere Scham beeinflussen: unsere Vorgeschichte, die Verfasstheit unserer Psyche, unsere Gene, unser Charakter, unsere Sozialisation und nicht zuletzt unsere Entscheidungen.
Genauso individuell, wie unsere Schamgefühle sind, sind auch unsere Geschichten – klar. Auch das, was uns bewegt, ist unterschiedlich, was uns berührt, beschäftigt, was uns wehtut, uns verletzt.
Deshalb will ich an dieser Stelle keine explizite »Trigger-Warnung« aussprechen. Ich kann nicht vorhersagen, was die Lesenden an unangenehme Erfahrungen erinnert oder was möglicherweise retraumatisierend wirkt, was sie »triggert«.
Gewalt kann man nicht dadurch begegnen, dass man sie verschweigt.
In diesem Buch werden Gewaltschilderungen eine Rolle spielen, sexualisierte Gewalt, Stalking, Ausgrenzung, Depressionen, Essstörungen und andere psychische Erkrankungen. Und es werden Suizidgedanken thematisiert. Denn all das kann eine Rolle bei und für Scham spielen.
Es kann sein, dass du während des Lesens auf die Darstellung oder Erläuterung eines Schamgrundes oder -phänomens wartest, die nie kommen wird. Weil ich sie nicht erlebt habe, du aber schon. Dann hoffe ich, dass andere Texte und Bücher diese hier verbleibenden Leerstellen bearbeiten.
Außerdem bemühe ich mich zwar an so vielen Stellen wie möglich bei meiner Version der Geschichte zu bleiben, wie ich sie erlebt und wahrgenommen habe. Aber zum Schutz der Persönlichkeitsrechte anderer habe ich an einigen Stellen fiktionale, verfremdende Elemente in die Erzählung eingefügt und Details abgeändert.
Die Sinnlosigkeit des Erlebten in dem Moment, in dem man es erlebt,
vervielfacht die Möglichkeiten des Schreibens.
ANNIE ERNAUX
Eine Geschichte schreiben …
»But really … Really, it was your storytelling. That is the true flower of free will. At least, as you’ve mastered it so far. When you create stories, you become gods of tiny, intricate dimensions unto themselves. So many worlds.« (Supernatural)
Metatron, ein Dämon aus der Serie Supernatural , beneidet die Menschen um ihre Geschichten. Er verschlingt Bücher, sein ganzes Haus ist voll von ihnen. Er möchte wissen, wie Geschichten funktionieren, wie sich Menschen durch ihre Geschichte hindurchbewegen, sie in ihr Leben einweben und ihr Leben in sie.
Das Geschichtenerzählen als ultimativer Beweis des freien Willens? Vielleicht ja auch als ein Akt, sich diesen freien Willen zu erkämpfen und sich seiner bewusst zu machen?
In einem Moment, in dem ich mich grenzenlos verletzt fühle, schreibe ich in mein Notizbuch:
»Du warst nur ein Kapitel. Ich bin die Geschichte. Und die geht weiter.«
Wir kämpfen alle um Geschichte. Zumindest um unsere: zuerst ums Überleben, dann darum, das in eine »erzählbare« Form zu bringen, dann darum, die Geschichte erzählen zu dürfen und schließlich um das Zuhören der anderen.
Bei dem Versuch, sie »erzählbar« zu machen, folgen wir bestimmten »Erzählzwängen« – so nennt man das in Teilbereichen der sozialwissenschaftlichen Forschung. Diese Erzählzwänge zielen darauf ab, den Zuhörenden erstens eine Geschichte verständlich zu machen, also alle wichtigen Kontexte zu benennen und die Geschichte innerhalb eines größeren Zusammenhangs zu verorten. Zweitens zu unterscheiden zwischen den relevanten und irrelevanten Facetten der Erzählung – nur die von dem*der Erzähler*in als bedeutsam befundenen Aspekte schaffen es in die Erzählung. Und drittens die Erzählung an einigen Stellen mit notwendigen oder ausschmückenden Details zu füllen, unterschiedliche Punkte der Geschichte miteinander zu verbinden und dadurch eine in sich konsistente und schlüssige Geschichte entstehen zu lassen.
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