Franz Fuhmann - Mein letzter Flug

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"Ich will nicht vergessen"
"Wie tief hinab reicht das Erinnern?" Eines der Lebensthemen von Franz
Fühmann war die literarische Vergegenwärtigung seiner Kindheit und Jugend, die er im Nachhinein als «eine gute Erziehung zu Auschwitz» bezeichnete. Einzelne Etappen dieser Zurichtung zum Nationalsozialismus hat er rückblickend in Erzählungen festgehalten. Der von Uwe Wittstock herausgegebene Band löst diese Texte aus der Reihenfolge ihrer Entstehung und ordnet sie nach den Entwicklungsstadien der kindlichen Hauptfigur. Es sind (bis auf das Schlussstück «Kameraden») alles Ich-Erzählungen und sie lesen sich im Zusammenhang wie ein Erziehungsroman der schwarzen Pädagogik, wie ein kleiner, finsterer Coming-of-age-Roman. Die Zusammenstellung kann so zum 100. Geburtstag des Autors liefern, was zur Wirkung Fühmanns auf ein großes Lesepublikum immer fehlte: einen gut lesbaren, anschaulichen, sprachlich herausragenden, populären Roman.

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Sie hatten die Haare zu Zöpfen geflochten und hüpften im Gänsemarsch, und an ihrer Spitze hüpfte die auch alltags bezopfte Handarbeitslehrerin; sie trugen alle eine Dotterblume oder einen Löwenzahn über der Stirn, und sie hüpften trippelnd in engen Sprüngen von einem Fuß auf den andern und hoben und senkten im Gleichtakt zu ihrem zirkelnden Gehüpf die aus den Fäusten ragenden Zeigefinger zwischen Hüfte und Schulter, so daß sich der linke erhob, wenn der rechte sich senkte, und dazu sangen sie: MING MANG MAU PING PANG PAU TSCHING TSCHANG TSCHING TSCHANG TSCHING TSCHANG TSCHAU, und das war derart komisch, daß die Klasse laut lachte und selbst den Herrn Kaplan ein Schmunzeln ankam. Dabei entrutschte mein Ohr seiner Hand; der Schmerz der plötzlichen Befreiung hackte wie ein Beil, doch er zerhackte auch die schädelaufstemmende Schraube des Ertaubens und vergönnte sogar mir ein Grinsen über die Gänse, die Chinesinnen sein wollten und eben nur blöde trippelnde Gänse aus Neutätschl waren, und als nun auch noch vom nahen Kirchhölzchen her mit rußgeschwärzten Gesichtern die Kleinsten gelaufen kamen und Eschenschößlinge schüttelten, als ob das Watussispeere wären, und dazu KUNGO KUNGO KUNGO HUUH KUNGO KUNGO KUNGO HUUH kreischten und sich kreischend und fratzenschneidend mit den übers Gaffen verstummten Mädchen im neugierigen Kreise zusammendrängten, da wußte ich wieder und wußte es so innig wie nie, daß ich ein Indianer war und am Marterpfahl stand und die große Prüfung vor aller Welt in Ehren bestehen werde.

Dieses Wissen war ein heiliger Vorsatz, doch es hatte auch einen festen Grund. Es hatte ja schon geläutet; nach spätestens fünf Minuten mußten wir in eine andere Stunde, und so dachte ich, der Herr Kaplan werde mir zum Abschluß noch ein paar Ohrfeigen geben und mich dann laufenlassen, und ich dachte, daß er sich, wie es seine Art war, mit gegrätschten Beinen vor mich hinstellen und mir, den ganzen Oberleib drehend, mit durchgestrecktem Arm abwechselnd links und rechts ins Gesicht schlagen und daß ich bei jedem Schlag TSCHALLAWEI sagen werde, immer nur TSCHALLAWEI, nichts anderes als TSCHALLAWEI, diesen herrlichen Kriegsruf meines Stammes, der im Geheul der Coyoten das Herz berauscht: TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI, und die Squaws drängten sich mit den Kindern dichter, und ich streckte Hals und Haupt und atmete noch in Fesseln die reine freie Luft der Verachtung, und der Schwarze Häuptling winkte die Squaws und die Kinder näher und brüllte und stampfte vor ihnen seinen Kriegsgesang, und ich hörte trotz des noch dumpfen Ohrs verklärt, daß er schrie, eine solch eine Verstocktheit wie die meine habe er noch nicht erlebt, und ich wolle klüger sein als alle Lehrer und gar als der hochwürdige Herr Erzbischof selbsten, und vor so einer Hoffart würde sich sogar der Satan im Höllenfeuer verschrecken, der Hochmutsteufel, der mehr hat sein gemocht als der Herrgott, doch jetzt würd sich’s zeigen, wer im Recht sei, jetzt würd er mir meinen Schneid schon abkaufen, und er trat vor mich hin, und sein Atem beschlug mein Gesicht wie Dampf, und ich biß grimmig die Zähne zusammen und sah über die Schulter des Feinds den makellosen Glanz des Himmels auf mich schauen und schloß geblendet die Augen und hörte den pfeifenden Atem der Squaws und war bereit; und dann geschah alles in entsetzlich langsamer Schnelle. Der Widersacher sprang auf meine Zehen und griff mir mit vollen Fäusten rechts und links der Schläfen ins Haar und zerrte es mit einem solchen Ruck schräg nach oben, daß mein Fleisch in einer jähen Panik des Schmerzes bis zum Ende begriff, wie ein Skalp genommen wurde; die Wurzel eines jeden Haares stand plötzlich in Weißglut; mein Schädel begann rundum zu brennen, und er brannte und brannte und verbrannte doch nicht; es war das Höllenfeuer, das solcherart lohte, und ich saß darin und heulte aus seinen Flammen, daß ich ein elender Bub sei, ein rotziger Bengel, ein frecher, aufsässiger dummer Lauser, der noch nicht einmal wisse, daß es SCHALAWEI heiße, SCHALAWEI, SCHALAWEI, und ich gurgelte SCHALAWEI, und das Feuer fraß sich ins Hirn und knisterte SCHALAWEI, tausendmal SCHALAWEI, und es wurde dunkel und das Feuer fraß weiter, und als dann die Fäuste des Herrn Kaplan mit einem armseligen Büschelchen Haar in die Höhe fuhren, ließ der Brand ein zusammengekrümmtes Häuflein aschig glühenden Schmerzes zurück, und durch das Läuten, das den Schulhof zertoste, ging sieghaft die schwarze Kutte des Herrn Kaplan.

Mittags beim Heimweg dann trottete irgendeine der Squaws an meiner Seite. »Der hat dich aber arg abg’straft, der Herr Kaplan«, schnatterte sie mitleidig, »was hast denn getan?«

Ich zuckte so lässig, als ich konnte, die Schulter. Auf meinen Schläfen zischte noch Glut. Die Squaw ließ nicht locker. Schließlich sagte ich ihr, daß ich statt SCHALAWEI TSCHALLAWEI gesungen hätte.

Die Squaw schnaubte. »A so a gemeiner Kerl, a gemeiner«, sagte sie entrüstet, »wegen einer so einer Kleinigkeit …«

»Das ist keine Kleinigkeit«, sagte ich scharf.

Sie lachte kicksend in ihrer Dummheit. »Das ist doch egal, ob das tschallerwei heißt …«

Begannen meine tausend Wunden nicht wieder zu bluten? Stürzte der Himmel nicht splitternd zusammen? Mein Herz schrie vor Empörung, und ich dachte der Lästerin den blöden Zopf um den Hals zu schlingen und sie zu erdrosseln, doch ich wußte, daß wir Indianer uns nicht an wehrlosen Squaws vergreifen, und gar noch an gelben, und so bezwang ich denn meinen heiligen Zorn. »Das ist nicht egal«, sagte ich mit keuchender Ruhe, »was verstehst denn du! Es ist der Indianergesang, weißt du, und der muß gesungen werden, wie’s richtig ist! Das ist fein was anderes als euer blödes Kinesergedudel! Das darf net a jeder singen, wie er grad will!«

Sie sah mich ehrfürchtig an, und Mustangs schrien, und Büffel stampften, und über der Prärie lag betörender Rauch. Ich war plötzlich von Mitleid erfaßt, daß sie nur eine Chinesin war und ihr Bruder nur einer der Neger, und ich ertrug ihre Unwissenheit mit schulterzuckender Geduld. Ihr Blick war treuherzig wie eine Linde; sie trug eine Löwenzahnblume über der Stirn, und der Saft aus dem Stengel hatte ihr schwarze Kringel auf die Haut gemalt, und das rührte mich. »Es ist der echte Indianergesang«, sagte ich mit erläuternder Milde, »da ist ein jedes Wort ganz genau vorgeschrieben, aber ganz genau, sonst wär’s ja kein echter Indianergesang!« Sie verstand in stummer Bewunderung; sie war bei ihrem Haus angelangt, doch sie lief weiter an meiner Seite, und ich duldete es. »Der Herr Kaplan hat ganz recht«, sagte ich, »wenn er also streng ist, das muß so sein!« – »War’s arg?« flüsterte sie scheu. Ich nickte fast unmerklich, so wie man Selbstverständlichkeiten eben seine Zustimmung gibt. Sie sah mich seufzend an und hatte große Augen unter der Löwenzahnblüte, und ich spürte voll Inbrunst und Glück das Feuer auf meinen Schläfen und hob den Kopf und schaute über die stumme Prärie in den Himmel, der seinen Glanz spannte über uns Indianer und auch noch über die anderen Völker der Welt.

Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume

Ich hatte ihn bis zu jenem Tage nicht gesehen, und ich weiß heute, daß ich ihn nie wieder sehen werde. Es hatte geklingelt; es war ein Uhr mittags, und es hatte geklingelt, wie es um diese Zeit immer zu klingeln pflegte. Ich wollte aus der Bibliothek, wo ich nach den mir streng verbotenen und vor mir auch ängstlich verwahrten anatomischen Büchern meines Vaters gestöbert hatte, zur Korridortür schlendern (früher war ich geeilt, aber nun, nach einem halben Jahr meines Amtes, schlenderte ich nur noch), da fiel mir ein, daß ich ja heute nicht öffnen durfte. Ich war allein in der Wohnung; Mutter war mit dem Dienstmädchen und der Sprechstundenhilfe ins nächste Dorf gegangen, wo es besonders saftige Birnen zu kaufen gab, und Vater war weit weg auf Hausvisiten und würde nicht vor drei Uhr wieder zu Hause sein. Pech gehabt, mein Guter da draußen, ich kann’s nicht ändern!

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