Von dort begebe ich mich zusammen mit einem Freund und einer kleinen Familie in einen Aufzug. Als wir nach oben blicken, sehen wir unser eigenes Spiegelbild in einem Video, das an der Decke gezeigt wird. Während der Lift aufwärts fährt, zoomt die Kamera auf dramatische Weise auf unsere Gesichter; sie scheint immer näher zu kommen, zeigt Milben in den Wimpern, Hautzellen, Bakterien und schließlich auch Viren. Als die Türen sich in der zweiten Etage öffnen, sehen wir ein Schild aus kleinen Lichtpunkten, die sanft schimmern wie eine lebende Kolonie. »Wenn man ganz nah hinsieht, eröffnet sich eine neue Welt, schöner und spektakulärer als alles, was man sich jemals vorgestellt hätte«, steht dort. »Willkommen in Micropia.«
Einen ersten Eindruck von dieser neuen Welt erhalten wir sofort durch eine Reihe von Mikroskopen. Sie richten sich auf Mückenlarven, Wasserflöhe, Fadenwürmer, Schleimpilze, Algen und grüne Teichbakterien. Letztere sind 200-fach vergrößert, und ich wundere mich bei dem Gedanken, dass Leeuwenhoeks selbst gebautes Mikroskop aus der unteren Etage das Gleiche leistete. Auch er sah diese kleinen Wunder, allerdings auf viel unbequemere Weise. Während er angestrengt durch eine winzige Linse blinzeln musste, kann ich das Gesicht an ein bequem gepolstertes Okular halten und auf ein scharfes Digitaldisplay blicken.
Hinter den Mikroskopen zeigt eine große Darstellung die Biogeografie des menschlichen Mikrobioms. Die Besucher stehen vor einer Kamera, die ihren Körper abtastet und auf einem großen Bildschirm einen mikrobiologischen Avatar zeichnet. Der Avatar, dessen Haut mit weißen Punkten nachgezeichnet ist, während die Organe in bunten Farben dargestellt werden, ahmt die Bewegungen der Besucher nach. Sie gehen weiter, er geht weiter. Sie winken, er winkt. Durch Handbewegungen können sie verschiedene Organe auswählen und Informationen über die Mikroorganismen in Haut, Magen, Darm, Kopfhaut, Mund, Nase und an anderen Orten abrufen. Sie erfahren, welcher Mikroorganismus wo zu Hause ist und was er tut. In diesem einen Ausstellungsstück verkörpern sich die Entdeckungen vieler Jahrzehnte von Kendall über Rosebury bis zu Relman. Eigentlich ist das ganze Museum ein Tribut an die Geschichte. Unter anderem zeigt es eine Reihe von Flechten, jene zusammengesetzten Organismen, durch die Wissenschaftler im 19. Jahrhundert auf die Bedeutung der Symbiose aufmerksam wurden. An einer anderen Stelle zeigt ein Mikroskop die Milchsäurebakterien, in die Metschnikoff sich verliebt hatte – winzige Kugeln, die 630-fach vergrößert sind und hübsche Bewegungen vollführen.
Mir fällt auf, wie nüchtern die Informationen sind und wie schnell die Besucher sich mit dem Gedanken an eine Welt der Mikroorganismen abfinden. Niemand zuckt zurück, runzelt die Stirn oder rümpft die Nase. Ein Paar steht auf einer roten, herzförmigen Plattform und legt für einen langen Kuss die Lippen vor dem »Kiss-o-Meter« aufeinander, der ihnen sagt, wie viele Bakterien sie gerade ausgetauscht haben. Eine junge Frau blickt aufmerksam auf eine Wand mit Stuhlproben von Gorillas, Wasserschweinen, Kleinen Pandas, Kängurus, Löwen, Ameisenbären, Elefanten, Faultieren, Schopfaffen und vielen anderen, die alle in dem benachbarten Zoo gesammelt, in luftdichten Gefäßen eingeschlossen und dann in Plexiglaskästen untergebracht wurden. Eine Gruppe von Teenagern starrt auf eine Wand mit von hinten beleuchteten Agarplatten, auf denen Pilze und Bakterien wachsen. Manche stammen von Alltagsobjekten. Sie erkennen den Abdruck von Schlüsseln, Telefonen, Computermäusen, Fernbedienungen, Zahnbürsten, Türklinken und den rechteckigen Umriss eines Euro scheins. Sie staunen über die orangefarbenen Flecken von Klebsiella , die blauen Matten von Enterococcus und die grauen, schmierigen Massen von Staphylococcus , die aussehen, als wären sie mit dem Bleistift schraffiert.
Die Familie, die mit mir im Aufzug gefahren ist, betrachtet eine hübsche Darstellung von Carl Woeses Lebensstammbaum. Das Bild nimmt eine ganze Wand ein. Tiere und Pflanzen sind in einen kleinen Kreis in der Ecke verbannt, an Ästen und Zweigen herrschen die Bakterien und Archaea. Der Papa wurde vermutlich geboren, bevor man überhaupt wusste, dass Archaea existieren; jetzt erfahren seine Kinder in einer großen Touristenattraktion etwas über sie.
Micropia repräsentiert das wachsende Wissen aus dreihundertfünfzig Jahren und die sich wandelnden Einstellungen gegenüber den Mikroorganismen. Hier sind sie weder übersehene Vertreter der zweiten Liga noch düstere Bösewichter. Hier sind sie faszinierend, wunderschön und der Aufmerksamkeit wert. Hier sind sie die Stars. George Eliot schrieb in Middlemarch: »Tatsächlich wissen die meisten von uns nur wenig über die großen Urheber, bis sie unter die Sternbilder erhoben wurden und bereits über unser Schicksal bestimmen.« Damit hätte sie durchaus die Wissenschaftler meinen können, die uns die Welt der Mikroorganismen offenbart haben, und auch die Mikroorganismen selbst.
KAPITEL 3
BAUMEISTER DES KÖRPERS
DAS, WAS SIE SUCHEN, ist etwa so groß wie ein Golfball«, sagt Nell Bekiares. 1
Ich sitze in einem Labor an der University of Wisconsin in Madison und schaue hinunter in ein kleines Aquarium. Es scheint leer zu sein. Ich sehe nichts von der Größe eines Golfballs. Eigentlich sehe ich überhaupt nichts außer einer Schicht Sand. Dann wedelt Bekiares mit der Hand im Wasser; plötzlich stößt etwas hervor und gibt eine Wolke aus zähflüssiger, schwarzer Tinte ab. Es ist ein Zwergtintenfisch der Spezies Euprymna scolopes, genauer gesagt ein Weibchen. Es ist ungefähr so groß wie mein Daumen. Bekiares holt den Tintenfisch mit einer kleinen Schale heraus; er schießt, gespenstisch weiß vor Aufregung, mit ausgestreckten Armen darin herum, und seine Flossen schlagen heftig. Als der Tintenfisch sich wieder beruhigt hat, versteckt er seine Arme unter dem Körper und setzt sich darauf; gleichzeitig verändert sich seine Form: Aus dem Pfeil wird ein großes Gelee-Ei. Auch die Haut macht eine Veränderung durch: Winzige farbige Pünktchen erweitern sich schnell zu flachen dunkelbraunen, roten und gelben Scheiben, die mit irisierenden Flecken übersät sind. Jetzt ist der Tintenfisch nicht mehr weiß, sondern sieht aus wie eine von Seurat gemalte Herbstszene.
»Wenn sie so braun werden, sind sie glücklich«, sagt Bekiares. »Braun ist ziemlich gut. Die Männchen sind oft stinksauer. Dann stoßen sie immer wieder Tinte aus und schießen hin und her. Wenn sie dir Wasser ins Gesicht oder auf die Brust spritzen, ist das bestimmt Absicht.«
Ich bin erstaunt. Der Tintenfisch strahlt Charakter aus. Und er ist von einer spektakulären Schönheit.
Andere Tiere gibt es in der Schale nicht, aber der Tintenfisch ist dennoch nicht allein. Zwei Kammern auf seiner Unterseite – seine Leuchtorgane – sind voller Leuchtbakterien der Spezies Vibrio fischeri . Von ihnen geht ein abwärts gerichtetes Glimmen aus. Das Licht ist so schwach, dass man es unter den Leuchtstoffröhren des Labors nicht sehen kann, aber in den flachen Riffgewässern rund um Hawaii, wo der Tintenfisch zu Hause ist, wäre es deutlich zu erkennen. Nachts macht das Licht der Bakterien angeblich dem Mondschein Konkurrenz, der von oben ins Wasser dringt; auf diese Weise löscht es die Silhouette des Tintenfisches aus und verbirgt ihn vor seinen natürlichen Feinden. Dieses Tier wirft keinen Schatten.
Der Tintenfisch mag von unten unsichtbar sein, aber von oben kann man ihn leicht ausmachen. Man braucht nur nach Hawaii zu fliegen, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten und dann mit Stirnlampe und Netz durch knietiefes Wasser zu waten. Mit guten Reflexen kann man bis zum Sonnenaufgang ein halbes Dutzend von ihnen schnappen. Und wenn man sie einmal gefangen hat, lassen sie sich ebenso einfach halten, füttern und züchten. »Wenn sie mitten in Wisconsin leben können, können sie überall leben«, sagt die Zoologin Margaret McFall-Ngai, die dieses Labor leitet. Die selbstbewusste, elegante und extrovertierte McFall-Ngai erforscht schon seit fast dreißig Jahren die Tintenfische und ihre Leuchtbakterien. Sie hat die Tiere zu einem Musterbeispiel für Symbiose gemacht und ist dabei auch selbst zum Musterbeispiel geworden. Ihre Kollegen preisen sie als freimütige Bilderstürmerin, die erstaunlicherweise auch begeistert Skateboard fährt und sich schon zu einer Zeit, als »Mikrobiom« noch kein angesagtes Schlagwort war, unermüdlich für Mikroorganismen einsetzte. »Sie spricht von der ›Neuen Biologie‹, und wenn Margaret das sagt, hört es sich an wie in Großbuchstaben geschrieben«, erzählte mir ein Biologe. So hat sie nicht immer gedacht. Erst der Tintenfisch sorgte dafür, dass sie ihre Meinung änderte. 2
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