Teilhard de Chardijn hat einmal in etwa gesagt: „Der Sinn der Schöpfung liegt darin, dass die gesamte Schöpfung und jedes Individuum den Schöpfer erkennt, in Beziehung zu ihm tritt und ihn aus tiefster Seele liebt.“
Echte Liebe aber braucht Freiheit. Wir kennen im Grunde zwei Arten von Liebe: Die Liebe aus Abhängigkeit, so wie etwa Kinder ihre Eltern lieben, weil sie von ihnen abhängen, weil sie sie brauchen und ohne sie nicht überleben könnten. Es braucht aber die Erfahrung der Pubertät, der Loslösung aus dieser Abhängigkeit, um zu jener Freiheit zu gelangen, die Voraussetzung für eine echte und freiwillige Liebesbeziehung ist. Vielleicht dient dieses irdische Leben in erster Linie dazu, dass alle Lebewesen diese neue Freiheit erlangen oder ihr näher kommen?
Vielleicht schenkt uns Gott diese Freiheit, damit wir uns aus freien Stücken ihm zuwenden können?
Diese freiwillige Liebe zu Gott setzt aber voraus, dass es auch ein Leben ohne Gott, ohne Gemeinschaft mit ihm und allen, die bei ihm sind, geben kann, eine Existenz in selbst gewählter Isolation, ohne Liebe und tiefe Beziehung.
Die Liebe Gottes und all derer, die bei ihm sind, muss vollkommen sein. Eine vollkommene Beziehung setzt aber voraus, dass es eine vollkommene Kommunikation geben muss. Alles, auch das Innerste, die geheimen Gedanken und Wünsche, alle Gefühle und Erlebnisse, die uns geprägt haben, alle guten und schlechten Taten müssen für alle offenbar sein. Nichts bleibt voreinander und vor Gott verborgen. Diese Kommunikation setzt ein großes einander Verzeihen und Vergeben voraus. Ohne die Bereitschaft dazu ist kein Leben bei Gott und seiner Gemeinschaft möglich. Ewiger Friede ist ohne totale Kommunikation, absolutes einander Erkennen und Akzeptieren nicht möglich. Und hier liegt das Problem. Je weiter sich ein Mensch von den Mitmenschen entfernt hat, je mehr er sich abgesondert (gesündigt) hat, desto schwerer werden ihm diese Öffnung und dieses Verzeihen sowie das Sich-verzeihen-lassen und das Eingliedern möglich sein. Hier findet die Lehre vom Purgatorium, vom „Fegefeuer“ und auch von der Hölle als mögliche endgültige Isolation ihre Rechtfertigung. Keiner hat das Wesen der Hölle besser beschrieben als Jean-Paul Sartre in seinem Stück „Bei verschlossenen Türen“. Es ist die Isolation des Einzelnen in einer Gemeinschaft von Menschen, die vergebens versuchen, ihr Innerstes voreinander zu verbergen, um den Schein aufrecht zu erhalten.
Viele Theologen sind heute der Ansicht, dass die Hölle eine reale Möglichkeit ist, dass aber kaum jemand sich so weit von Gott entfernen kann und will. Aber ein innerer Seelenkampf steht uns sicher bevor. Je mehr wir hier auf Erden geliebt und je mehr wir einander vergeben haben, desto leichter wird uns diese Öffnung im jenseitigen Leben fallen.
Ein weiterer Gedanke sei hier noch aufgegriffen. Warum lässt Gott all das Böse zu, all die Grausamkeiten, den Hass und die Lieblosigkeit, das Morden und die Kriege? Ist das Böse seinen Händen entglitten, ist er machtlos geworden, wie ihn Wolfgang Borchert in seinem Stück „Draußen vor der Tür“ vorstellt?
Vielleicht ist aber das Böse ein weiterer Weg Gottes, um die Liebe seiner Geschöpfe zu ihm zu erreichen? Gott ist voll Erbarmen, und die Tatsache des Vergebens all seiner Schuld kann ein starker Anreiz für den Sünder sein, seine ablehnende Haltung gegen Gott und die Seinen aufzugeben und zur Liebe zu finden. Auch hierfür gibt es zahlreiche Beispiele in der Geschichte und Literatur. Weil für uns aber Gott so unbegreiflich und unfassbar ist, ist unser Reden von ihm nur ein Gestammel. Die Wirklichkeit Gottes ist für uns genauso unzugänglich, wie für einen Embryo im Mutterleib die Wirklichkeit seiner Mutter ist. Es ist daher sinnlos, wenn verschiedene Religionen über ihr Gottesbild streiten, denn mehr, als dass es ihn geben muss, können wir kaum erkennen. Die negative Theologie seit Platon bis in die Gegenwart stellt das, was Gott nicht ist, in die Mitte ihres Denkens und bremst uns ein, wenn wir allzu leichtfertig und großzügig über Gott zu reden versuchen.
Die ersten Christen hatten wie die Juden und die Muslime daher das Gebot, sich von Gott kein Bild zu machen. Während die Juden für Gott Symbole verwenden und die Muslime in kunstvollen Schriftzeichen ihre Ehrfurcht ausdrücken, haben die Christen nach dem Bilderstreit im 7. Jh. einen Weg gefunden, die jenseitige Welt in Bildern darzustellen, indem sie erkannt haben, dass alle diese Bilder nicht die Wirklichkeit darstellen, sondern uns nur erinnern sollen, dass es diese Wirklichkeit gibt und wir an sie denken und Beziehung aufbauen sollen, ohne zu wissen, wie sie tatsächlich ist.
Schon Mose verbot seinem Volk, sich von Gott ein Bild zu machen. Zu groß war die Versuchung, das Bild mit Gott zu verschmelzen und zu verwechseln. Die Propheten und vor allem Jesus verwenden in ihrem Reden von Gott Sprachbilder, die keine körperliche Vergegenständlichung dulden. Gott wird zum Beispiel mit einer Henne verglichen, die ihre Küken umsorgt. Gott ist wie ein Gutsherr, der die Arbeiter, die er in seinen Weinberg berufen hat, alle in gleich großzügiger Weise belohnt, obgleich sie unterschiedlich lang für ihn gearbeitet haben. Gott ist wie ein liebender Vater, der seinen missratenen und verlorenen Sohn mit Freuden aufnimmt, ohne nachtragend zu sein. Gott hat ein Herz für die Sünder, die sich ihm wieder zuwenden. Wenn Gott mit einem Richter verglichen wird, so wird betont, dass seine Gerechtigkeit nicht mit menschlicher Gerechtigkeit zu vergleichen ist. Sein Richten gleicht eher einem Herrichten, einem Neu-Ausrichten, als einem Verurteilen oder Verdammen.
Wenn Gott, der Urheber alles Seins, allmächtig, allwissend und absolute Liebe und Zuwendung ist, wie die monotheistischen Religionen behaupten, dann ist es schwer vorstellbar, dass er Lebewesen geschaffen hat, im Vorauswissen, dass sie scheitern und nicht an ihr Ziel kommen können. Gott wäre dann einem Konstrukteur vergleichbar, der bewusst und absichtlich Ausschuss produziert.
Wenn Gott aus Materie Leben sich entfalten lässt, wenn jedes Leben ein Unikat ist, warum sollte er dieses Leben wieder zugrunde gehen lassen? Ein großes Problem stellt für viele Menschen dar, dass Gott in seiner Liebe zulässt, dass es Leid und Not, Krankheit und Tod, Katastrophen, Kriege und all das Böse gibt. Viele zweifeln deswegen sogar an seiner Existenz oder Allmacht.
Wenn aber Gott unsere freiwillige Liebeszuwendung will, dann dient alles Negative vielleicht dazu, dass wir in unserer Verantwortung für unsere Mitmenschen wachsen, dass unsere Kreativität für andere gefördert wird, dass wir Liebe wirklich lernen, dass wir frei für die wahre Liebe werden.
Anziehungskraft (Cover-Bild)
Im materiellen Bereich gibt es eine Kraft, der sich kein Materie-Teilchen entziehen kann, die Gravitations- oder Massenanziehungskraft. Am deutlichsten wird sie bei den sogenannten „Schwarzen Löchern“ im Weltall, die jede Materie, die in ihren Anziehungsbereich gerät, unweigerlich anziehen und an sich binden. Je größer die Materie dieser Schwarzen Löcher ist, desto intensiver ist auch ihre Anziehungskraft.
Denkbar und wahrscheinlich ist auch eine vergleichbare Kraft im Bereich alles Lebendigen und Geistbegabten, Immateriellen. Eine Kraft, die zusammenführt und aneinander bindet. Es ist die Liebe. Alles Lebendige wird von ihr erfasst und gibt ihm erst seinen tiefsten Sinn und seine letzte Erfüllung. Selbst Tiere und Pflanzen werden von ihr ergriffen. Wohl ist diese Kraft in unserer irdischen Wirklichkeit durch vielfältige Einflüsse geschwächt und oft nur wenig wirksam, ähnlich wie auch die Massenanziehung zwischen kleinen Massen kaum messbar ist.
Unser christlicher Glaube lehrt uns, dass Gott die Fülle der Liebe an sich ist. „Gott liebt seine Schöpfung“ heißt mit anderen Worten: Nichts und niemand wird zugrunde gehen. Gott wird alles Lebendige an sich ziehen, aber nicht um es zu vereinnahmen und zu verschlingen. Wahre Liebe lässt das Individuum bestehen und freut sich an seiner eigenständigen Entfaltung. Gott ist aber auch der Garant dafür, dass unsere eigene Sehnsucht nach Lieben und Geliebt-Werden auf absolute und vollkommene Weise erfüllt wird. Wie das möglich sein wird, bleibt uns als noch materiell Sterblichen ein Geheimnis.
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