Immer wenn sie in Grizz’ Nähe kam, blühte etwas in seinem Inneren auf. Ein Gefühl, das er nicht benennen und auf den Punkt bringen konnte. Wie die Nadel in einem Kompass zuverlässig den geografischen Norden fand, kehrte Grizz immer wieder zu ihr zurück.
Aus dem Mädchen mit den Zöpfen und den abgeschnittenen Jeans war sie herausgewachsen, aufgeblüht und zur Königin des Abschlussballs geworden. Sie hatte im Jahr zuvor sogar einen Schönheitswettbewerb gewonnen. Im Jahrbuch der Highschool wurde sie als beliebteste Schülerin bezeichnet.
Jeder mochte Patty Keaton. Was gab es an ihr auch nicht zu mögen? Gar nichts.
Außer, dass sie Keatons kleine Schwester war und Grizz sie kannte, seit sie in die Windeln gemacht hatte.
Okay, er war zu der Zeit im Kindergarten gewesen. Als sein neuer Freund Keaton Grizz eines Tages nach der Schule in die malerische Sackgasse mitgenommen hatte, in der er wohnte, hatte Grizz in den Laufstall geblickt und dort ein rothaariges Bündel mit rosa Bäckchen gesehen. Das kleine Ding, das seinen Finger gepackt hatte, hatte ihn fasziniert.
Grizz besuchte die Keatons ab da jeden Tag. Jedes Mal schaute er in den Laufstall. Er liebte es, der kleinen Patty Keaton beim Schlafen zuzusehen. Er liebte es, zu dem heranwachsenden Kleinkind zu sprechen, wenn es vor sich hin brabbelte, und er brachte sie gerne zum Lächeln. Während Keaton gerne Soldat gespielt hatte, hatte Grizz es vorgezogen, dem kleinen Mädchen vorzulesen, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Geschichten von Dr. Seuss lauschte. Patty hatte dann immer gelächelt und ihn angegrinst, als wäre er ihr großer Held.
Auch jetzt gerade lächelte sie, grinste allerdings einen anderen Kerl an und ging an Grizz vorbei.
»Mac«, strahlte Patty. »Du hast es geschafft.«
»Hey Patty Cakes.« Mac zog sie in eine enge Umarmung und hob sie so an, dass ihr Kleid um ihre langen, schlanken Beine wirbelte.
Grizz wollte am liebsten protestierend knurren. Teils, weil Mac sie in den Armen hielt, aber hauptsächlich, da Mac es wagte, Patty mit dem Kosenamen anzureden, den Grizz ihr verliehen hatte und den nur er verwenden durfte. In der Vergangenheit war Grizz der Erste gewesen, zu dem sie gelaufen war. Ihm hatte sie immer ihr Lächeln geschenkt.
Mac kannte sie dagegen kaum. Er wusste nicht, dass sie für Süßigkeiten nichts übrighatte und dass sie ihren Tee mit Zimt trank. Er wusste nicht, dass sie immer noch mit einer ausgestopften Giraffe namens Jemmy anstatt mit einem Teddybären schlief. Oder dass sie ein Lächeln draufhatte, mit dem sie, nach Grizz’ Ansicht, selbst einen Bären niederstrecken konnte.
»Die Army meint es gut mit dir.« Patty befühlte Macs Bizeps. »Wie groß deine Muskeln geworden sind.«
Unter ihren bewundernden Blicken plusterte Mac sich auf und spannte die Muskeln an. Pattys Grinsen wurde breiter und brachte das Licht in ihren klaren blauen Augen zur Geltung. Dieses Licht erschien, wenn sie Unfug im Sinn hatte.
Das Wissen darum half Grizz allerdings nicht, sein Temperament zu zügeln.
»Er hat eine Freundin«, grollte Grizz.
Patty drehte den Kopf und sah über die Schulter. Ihre strahlenden Augen ruhten endlich auf Grizz’ Gesicht. Und da war auch dieses wachsende Gefühl in seinem Inneren, zog ihn zu ihr hin, als wäre sie nach einem langen Arbeitstag ein Portal nach Hause.
»Hey, Grizzlybär.«
»Patricia.«
Patty runzelte die Stirn. Den vollständigen Namen zu benutzen war, also zöge er an ihren Zöpfen. Was er seit Jahren nicht mehr getan hatte, denn sie trug schon lange keine Zöpfe mehr. Genauso wenig wie abgeschnittene Jeans und abgetragene Sneakers wie der Wildfang, der Patty einmal gewesen war.
Patricia Keaton war kein Wildfang, kein Kind mehr. Sie war achtzehn. Eine erwachsene Frau.
Ein Lächeln breitete sich langsam auf ihrem Gesicht aus. Der Babyspeck war aus den Wangen verschwunden. Die hohen Wangenknochen lieferten scharfe Kontouren, für die junge Männer vermutlich reihenweise akrobatische Kunststücke vollführten. Ihre schlanken Beine schienen nicht enden zu wollen, und ihre Riemensandalen machten stinknormale Männer zu Fußfetischisten.
»Ich wusste doch, dass du zu meiner Party kommst, Grizz. Ich kann immer auf dich zählen.«
Grizz’ Blick kehrte zu ihrem Lächeln zurück. Er hatte sie als Kind zum Kichern gebracht. Sie hatte gejauchzt, wenn er sie auf der Schaukel angestoßen hatte. Sie hatte grinsend zu ihm aufgesehen, wenn er ihr die witzigen Gedichte vorgelesen hatte, die er als Kind so liebte. Selbst als er versucht hatte, schwierigere Gedichte zu erklären, die ihm als junger Mann gefielen, hatte sie höflich gelächelt, weil sie nichts davon verstanden hatte.
Patty war das einzige Mädchen gewesen, mit dem er lange Nachmittage hatte verbringen können, ohne das Bedürfnis zu verspüren, fortlaufen zu müssen. Er hatte bei ihr nie den Druck verspürt, mehr zu sein, als er war. Vermutlich, weil sie sich schon so lange kannten.
»Was ist mit deinem großen Bruder?«, fragte Keaton. »Bin ich etwa gehackte Leber für dich?«
»Zufälligerweise mag ich gehackte Leber«, entgegnete Patty.
Keaton bohrte den Finger in ihre Schulter. »Weil du seltsam bist.«
Patty wich aus und schlug nach seiner Hand. Die beiden rangelten miteinander. Keaton in seinen soliden Armeestiefeln und Patty in ihren feinen Riemensandalen.
In einem Haus, in dem der Vater beim Militär war, der Bruder denselben Pfad einschlug, und Grizz nicht verstand, warum Mädchen nicht ebenfalls boxen können sollten, hatte Patty gelernt, sich selbst zu verteidigen. Selbst im Kleid und auf hochhackigen Schuhen behauptete sie sich.
In diesem Moment sah Grizz in ihr das Mädchen wieder, das sie einmal gewesen war. Das Mädchen, mit dem er im Hinterhof ringen konnte. Das Mädchen, mit dem er ruhige Freitagabende verbracht hatte, um einen Marathon der Andy Griffith Show oder Happy Days zu sehen. Das eine Mädchen, bei dem er sich nichts dabei denken musste, wenn es seinen Kopf auf seiner Schulter ausruhte.
Keaton täuschte rechts an. Patty hatte die Gelegenheit zum Gegenangriff, trat stattdessen jedoch einen Schritt zurück und ließ sich einfach gegen Grizz fallen. Er fing sie auf und drückte ihren üppigen Körper an sich. Mit einem Schlag verließ sie die Kampfeslust, und auch aus ihm schwand der Widerstand.
Es war lange her, dass er Patty das letzte Mal berührt hatte. Jahre, seitdem sie auf der Couch aneinander gekuschelt gesessen hatten und Patty ihren Kopf an seine Schulter gelehnt hatte.
Grizz’ Blick fiel auf Pattys Mund. Patty öffnete die Lippen. Ihre rosa Zunge schnellte hervor und befeuchtete diese Lippen. Sein Griff verstärkte sich. Alles in seinem Inneren schrie nur ein Wort.
Meins.
»Ha«, rief Keaton aus. »Erwischt. Halt sie gut fest, Grizz.«
Ja! Genau das sollte er tun. Patty festhalten und nie mehr loslassen. Ihren Kopf an die Brust drücken, damit sie hörte, wie sein Herz für sie pochte. Ihr Kinn anheben, um ihr dabei zusehen, wie sie die Lippen befeuchtete und dann ihren Mund erobern.
Grizz ließ Patty los. Seine Arme streckten sich widerwillig, als er sie von sich wegschob. Patty schwankte auf unsicheren Beinen, und Grizz musste an sich halten, nicht erneut nach ihr zu greifen.
Als sich ihre Blicke begegneten, war der Glanz in Pattys Augen erloschen. Das glitzernde Azur war einem verschmiertem Blau gewichen, das man fast grau nennen konnte. Patty machte einen Schritt zur Seite. Die Zurückweisung war ihr anzusehen. Sie nickte allen kurz angebunden zu und stakste davon.
Keaton gab Grizz einen Stoß. »Warum hast du sie gehen lassen?«
Der Stoß von seinem besten Freund war nicht besonders kräftig gewesen, doch Grizz’ schwankte, als würde er gleich umfallen. Er hatte gerade das Einzige auf dieser Welt losgelassen, das er verzweifelt haben wollte, aber nicht haben konnte. Er hatte gerade die kleine Schwester seines besten Freundes gehen lassen.
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