»Sollte der Fall eine dramatische Wendung nehmen, werde ich alles tun, um persönlich anwesend zu sein. Aber Sie werden verstehen, dass es mir bei meiner ausgedehnten Tätigkeit und in Anbetracht der Hilfegesuche, die fortwährend von verschiedensten Seiten an mich herangetragen werden, unmöglich ist, London auf unbestimmte längere Zeit zu verlassen. Gerade in diesem Augenblick ist einer der geachtetsten Namen Englands in Gefahr, von einem Erpresser besudelt zu werden, und niemand anders als ich kann einen schrecklichen Skandal verhindern. Sie begreifen gewiss, dass ich unmöglich nach Dartmoor reisen kann.«
»Wen würden Sie dann empfehlen?«
Holmes legte die Hand auf meinen Arm.
»Wenn mein Freund hier diese Aufgabe übernehmen würde, so können Sie keinen besseren Mann finden, der Ihnen in der Stunde der Not zur Seite steht. Niemand kann das besser beurteilen als ich.«
Dieser Vorschlag kam für mich völlig überraschend, und ich hatte noch gar keine Worte gefunden, da ergriff Baskerville schon meine Hand und schüttelte sie herzlich.
»Also, das ist wirklich riesig nett von Ihnen, Dr Watson! Sie kennen meine Situation und wissen von der Geschichte genauso viel wie ich. Wenn Sie mit nach Baskerville Hall kommen und mir beispringen wollen, werde ich Ihnen das nie vergessen.«
Die Aussicht auf ein Abenteuer hatte immer große Anziehungskraft auf mich gehabt, und überdies fühlte ich mich durch Holmes’ anerkennende Worte und durch die Begeisterung, mit der der Baronet mich als Begleiter akzeptierte, sehr geschmeichelt.
»Ich begleite Sie mit Vergnügen«, versicherte ich. »Ich wüsste nicht, was ich Besseres mit meiner Zeit anfangen könnte.«
»Und Sie werden mir gewissenhaft Bericht erstatten«, sagte Holmes. »Sollte es zu einer Krisis kommen – und das wird es früher oder später – werden Sie von mir genaue Weisungen erhalten. Ich nehme an, Sie haben Ihre Geschäfte in London bis Samstag erledigt, Sir Henry?«
»Würde Ihnen das passen, Dr Watson?«
»Ausgezeichnet.«
»Dann treffen wir uns, falls Sie nichts Gegenteiliges von mir hören, am Samstag am Bahnhof Paddington und nehmen den Zug um zehn Uhr dreißig.«
Wir waren aufgestanden und wollten uns gerade verabschieden, da stieß Baskerville plötzlich einen Triumphschrei aus, stürzte in eine Zimmerecke und zog unter dem Schrank einen braunen Schuh hervor.
»Mein vermisster Stiefel!« rief er.
»Mögen sich alle Probleme so leicht beheben lassen«, bemerkte Sherlock Holmes.
»Aber das ist doch wirklich höchst sonderbar«, sagte Dr Mortimer. »Ich habe erst vor dem Lunch dieses Zimmer sorgfältig durchsucht.«
»Ich auch!« sagte Baskerville. »Jeden Zollbreit.«
»Aber da war ganz bestimmt kein Schuh hier.«
»Dann muss der Hausdiener ihn gebracht haben, während wir beim Lunch saßen.«
Der Deutsche wurde gerufen, beteuerte aber, nichts von der Sache zu wissen, und auch alle weiteren Erkundigungen verliefen ergebnislos. So war die Serie scheinbar sinnloser Ereignisse, die so rasch aufeinander folgten, durch ein weiteres ergänzt worden. Abgesehen von dem düsteren Geheimnis um Sir Charles’ Tod hatte es innerhalb von nur zwei Tagen eine ganze Reihe unerklärlicher Zwischenfälle gegeben: der anonyme Brief, der schwarzbärtige Beschatter in der Droschke, das Verschwinden des neuen braunen Stiefels, das Verschwinden des alten schwarzen Schuhs, und nun das Wiederauftauchen des neuen braunen Stiefels. Während wir in einer Droschke zurück in die Baker Street fuhren, hüllte Holmes sich in Schweigen, und ich sah an seinen zusammengezogenen Brauen und seiner konzentrierten Miene, dass sein Geist damit beschäftigt war, den Plan zu erkennen, der hinter diesen bizarren und scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen steckte. Den ganzen Nachmittag verbrachte er in dicke Tabakwolken gehüllt und tief in Gedanken versunken.
Kurz vor dem Abendessen kamen zwei Telegramme. Das erste lautete:
»Soeben erfahren, dass Barrymore in Baskerville Hall ist. – Baskerville.«
Das zweite meldete:
»Weisungsgemäß dreiundzwanzig Hotels aufgesucht, zerschnittene Seite der Times leider nicht gefunden. – Cartwright.«
»Da reißen zwei Fäden, Watson. Nichts ist so stimulierend wie ein Fall, in dem alles schief geht. Wir müssen uns nach einer neuen Spur umtun.«
»Wir haben noch den Kutscher, der den Spion gefahren hat.«
»Allerdings. Ich habe die Registrierungsstelle telegraphisch um seinen Namen und seine Anschrift gebeten. Und ich glaube, hier kommt die Antwort auf meine Anfrage.«
Das Läuten der Türglocke brachte sogar noch etwas Besseres als ein Antworttelegramm. In der Türöffnung erschien ein derb aussehender Mann, offensichtlich der Kutscher selbst.
»Ich hab Bescheid gekriegt von der Zentrale, dass ein Herr unter dieser Adresse nach Nummer 2074 gefragt hat«, brummte er. »Ich fahre meinen Wagen jetzt sieben Jahre und hab nie ’ne Klage gehabt. Bin direkt von den Stallungen hierhergekommen und will Sie geradewegs ins Gesicht fragen, was Sie gegen mich haben.«
»Ich habe ganz und gar nichts gegen Sie, mein guter Mann«, sagte Holmes. »Im Gegenteil, ich habe einen halben Sovereign für Sie, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten.«
»Na, das is’ mal ein guter Tag für mich«, grinste der Kutscher. »Was wollnse denn wissen, Sir?«
»Zunächst Ihren Namen und Ihre Adresse, für den Fall, dass ich Sie später noch brauche.«
»John Clayton, Turpey Street 3, The Borough. Meine Droschke gehört zu Shipley’s Fuhrgeschäft, dicht beim Bahnhof Waterloo.«
Sherlock Holmes notierte das.
»Nun, Clayton, erzählen Sie mir alles über den Fahrgast, der heute Morgen um zehn Uhr dieses Haus beobachtet hat und danach zwei Gentlemen die Regent Street hinunter gefolgt ist.«
Der Mann reagierte verdutzt und leicht verlegen.
»Na, dann hat’s ja wohl wenig Sinn zu flunkern, wo Sie das schon wissen«, sagte er. »Die Sache is’ die: Der Gentleman hat mir gesagt, dass er Detektiv is’, und ich darf keinem Menschen was über ihn sagen.«
»Mein lieber Mann, dies ist eine sehr ernste Angelegenheit, und es könnte Sie in eine hässliche Klemme bringen, wenn Sie versuchen, mir etwas zu verschweigen. Ihr Fahrgast hat Ihnen also erzählt, er sei Detektiv?«
»Jawohl, das hat er.«
»Wann hat er dies gesagt?«
»Beim Aussteigen.«
»Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Seinen Namen.«
Holmes warf mir einen raschen triumphierenden Blick zu.
»Oh, er hat seinen Namen genannt, wirklich? Wie unvorsichtig. Wie lautet denn der Name?«
»Sein Name«, antwortete der Kutscher, »ist Mr Sherlock Holmes.«
So verblüfft wie bei dieser Antwort des Kutschers hatte ich meinen Freund noch nie gesehen. Einen Augenblick saß er sprachlos da. Dann brach er in lautes Lachen aus.
»Touché, Watson – unbestreitbar ein Treffer!« rief er. »Er führt seine Klinge genauso geschickt und geschmeidig wie ich. Gut gegeben, für diesmal! Also sein Name war Sherlock Holmes, sagten Sie?«
»Ja, Sir, das war der Name.«
»Wunderbar! Und nun erzählen Sie mir, wo Sie ihn aufgelesen haben, und alles, was danach passiert ist.«
»So gegen halb zehn hat er mir gewinkt, das war auf dem Trafalgar Square. Er hat gesagt, er wär Detektiv, und er hat mir zwei Guineen versprochen, wenn ich den ganzen Tag lang tun würde, was er sagt, und keine Fragen stelle. Da hab ich natürlich zugegriffen. Zuerst sind wir zum Northumberland Hotel gefahren. Da haben wir gewartet, bis zwei Gentlemen rausgekommen sind. Die haben am Droschkenstand einen Wagen genommen, und dem sind wir gefolgt, bis er hier irgendwo angehalten hat.«
»Genau vor dieser Tür«, fiel Holmes ein.
»Also, das kann ich nicht so genau sagen, aber mein Fahrgast wusste jedenfalls Bescheid. Wir haben ein Stück weiter die Straße runter gehalten und da gewartet, vielleicht anderthalb Stunden. Dann sind die beiden Gentlemen wieder an uns vorbeigekommen, diesmal zu Fuß, und wir sind ihnen langsam hinterher, durch die Baker Street und –«
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