»Sie liefert ihn dem Kutscher aus.«
»Richtig.«
»Wie schade, dass wir uns nicht die Wagennummer gemerkt haben!«
»Mein lieber Watson, so tölpelhaft ich mich auch benommen habe – Sie glauben doch nicht im Ernst, ich hätte die Nummer übersehen? Sie lautet 2704. Aber das nützt uns im Augenblick wenig.«
»Ich wüsste nicht, was Sie anderes hätten tun können.«
»Ich hätte, als ich die Droschke bemerkte, augenblicklich umkehren und in der entgegengesetzten Richtung weitergehen sollen. Dann hätte ich in aller Ruhe eine Droschke nehmen und dem Mann in diskreter Entfernung folgen können – oder besser noch, ich hätte zum Northumberland Hotel fahren und dort auf ihn warten sollen. Unser Unbekannter wäre Baskerville dorthin gefolgt, und wir hätten Gelegenheit gehabt, den Spieß umzudrehen und ihn zu beobachten. Aber wir haben uns durch vorschnelles Handeln verraten, was unser Gegenspieler mit außerordentlicher Geistesgegenwart und Entschlossenheit ausgenutzt hat, und wir haben unseren Mann aus den Augen verloren.«
Während dieses Gesprächs waren wir langsam die Regent Street hinuntergeschlendert. Dr Mortimer und sein Begleiter waren unseren Blicken längst entschwunden.
»Es hat keinen Sinn, ihnen weiterhin zu folgen«, sagte Holmes. »Der Spürhund ist verschwunden und wird so schnell nicht wieder auftauchen. Wir müssen überlegen, welche Karten wir noch in der Hand haben, und sie entschlossen ausspielen. Könnten Sie den Mann in der Droschke beschreiben?«
»Mit Bestimmtheit könnte ich nur den Bart bezeugen.«
»Ich auch, woraus ich schließe, dass der Bart höchstwahrscheinlich falsch ist. Ein kluger Mann auf einer so heiklen Mission braucht keinen Bart, außer um seine Gesichtszüge zu verbergen. Kommen Sie mit hier herein, Watson.«
Er betrat den Geschäftsraum eines Botendienstes, wo er vom Büroleiter erfreut und herzlich begrüßt wurde.
»Ah, Wilson, ich sehe, Sie haben die kleine Angelegenheit nicht vergessen, in der ich damals Gelegenheit hatte, Ihnen behilflich zu sein.«
»Nein, Sir, das werde ich nie vergessen. Sie haben meinen guten Namen gerettet, und vielleicht sogar mein Leben.«
»Sie übertreiben, mein Lieber. Wenn ich mich richtig erinnere, Wilson, war unter Ihren Botenjungen ein junger Bursche namens Cartwright, der sich bei der Ermittlung recht geschickt angestellt hat.«
»Ja, Sir, der ist noch bei uns.«
»Würden Sie ihn bitte rufen? Danke. Und könnten Sie mir freundlicherweise diese Fünf-Pfund-Note in Münzen umwechseln?«
Auf das Klingelzeichen des Büroleiters erschien ein vielleicht vierzehnjähriger Junge mit offenem, aufgewecktem Gesicht. Er stand jetzt vor uns und blickte ehrfürchtig zu dem berühmten Detektiv auf.
»Würden Sie mir bitte das Hotelverzeichnis reichen?« fragte Holmes. »Danke sehr. Hier, Cartwright, sind die Namen von dreiundzwanzig Hotels, alle in unmittelbarer Nähe von Charing Cross. Siehst du?«
»Jawohl, Sir.«
»Du suchst sie alle auf, eins nach dem anderen.«
»Jawohl, Sir.«
»In jedem Hotel gibst du erst dem Türsteher einen Schilling. Hier sind dreiundzwanzig Schillinge.«
»Ja, Sir.«
»Du sagst ihm, dass du den Papierabfall von gestern sehen möchtest. Falls er fragt, sagst du, ein wichtiges Telegramm sei falsch ausgeliefert worden, und du sollst danach suchen. Verstanden?«
»Jawohl, Sir.«
»In Wirklichkeit suchst du nach dem Mittelblatt der Times von gestern, aus dem mit einer Schere Teile ausgeschnitten worden sind. Hier ist ein Exemplar dieser Ausgabe. Dies ist die Seite, auf die es ankommt. Du wirst sie doch wiedererkennen?«
»Jawohl, Sir.«
»Der Türsteher wird in jedem Fall erst den Hotelportier rufen. Dem gibst du auch einen Schilling. Hier sind noch einmal dreiundzwanzig Schillinge. In den allermeisten Hotels wirst du zu hören bekommen, der Inhalt der Papierkörbe sei bereits verbrannt oder sonstwie vernichtet. In den restlichen wird man dir einen Haufen Papier zeigen, und darin suchst du dieses Blatt der Times. Die Chance, dass du es findest, ist sehr gering. Hier sind noch einmal zehn Schillinge für unvorhergesehene Fälle. Gib mir bis heute Abend per Telegramm Bescheid in die Baker Street. Und nun, Watson, müssen wir nur noch telegraphisch die Identität des Kutschers von Droschke Nr. 2704 ermitteln, und dann wollen wir uns die Zeit bis zu unserer Verabredung im Northumberland Hotel in einer der Gemäldegalerien in der Bond Street vertreiben.«
Drei gerissene Fäden
Sherlock Holmes besaß in ungewöhnlichem Maß die Fähigkeit, seine Gedanken von momentanen Problemen ab- und auf andere Dinge hinzulenken. Während der nächsten zwei Stunden hatte er den geheimnisvollen Fall, in den wir verwickelt waren, scheinbar völlig vergessen. Er war in die Betrachtung von Gemälden der modernen belgischen Schule vertieft, und auch auf dem Weg von der Galerie zum Hotel sprach er ausschließlich über moderne Kunst, von der er die absurdesten Vorstellungen hatte.
»Sir Henry Baskerville erwartet Sie oben«, sagte der Concierge. »Er bat mich, Ihnen auszurichten, Sie möchten so-gleich heraufkommen.«
»Dürfte ich erst einen Blick in Ihr Fremdenbuch tun?« fragte Holmes.
»Selbstverständlich.«
Das Gästebuch wies unterhalb des Namens Baskerville nur zwei Eintragungen auf. Die eine lautete »Theophilus Johnson mit Familie, aus Newcastle«, die zweite »Mrs Oldmore mit Zofe, von High Lodge, Alton«.
»Das ist bestimmt der Mr Johnson, den ich von früher kenne«, sagte Holmes. »Ein Rechtsanwalt, nicht wahr? Grauhaarig und leicht hinkend?«
»Nein, Sir, Mr Johnson ist Besitzer eines Kohlebergwerks, ein sehr rüstiger Herr, und nicht älter als Sie.«
»Ich glaube doch, Sie irren sich bezüglich seines Berufes.«
»Bestimmt nicht, Sir, er logiert seit vielen Jahren hier, wir kennen ihn sehr gut.«
»Aha, dann war ich im Irrtum. Aber Mrs Oldmore – ich erinnere mich dunkel an diesen Namen. Entschuldigen Sie meine Neugier, aber es kommt ja oft vor, dass man einen Freund besucht und unverhofft einen anderen wiederfindet.«
»Sie ist eine kränkliche Dame, Sir. Ihr Gatte war früher Bürgermeister von Gloucester. Sie steigt regelmäßig bei uns ab, wenn sie in London ist.«
»Danke sehr. Ich glaube, ich habe nicht die Ehre ihrer Bekanntschaft. – Wir haben durch diese Fragen etwas sehr Wichtiges geklärt, Watson«, fuhr er mit leiser Stimme fort, während wir die Treppe hinaufstiegen. »Wir wissen jetzt, dass die Leute, die sich so auffällig für Sir Henry interessieren, nicht in diesem Hotel wohnen. Was wiederum bedeutet, dass sie sich allergrößte Mühe geben, ihn zu überwachen, ohne dass sie selbst bemerkt werden. Sehr vielsagend!«
»Was sagt uns das denn?«
»Es besagt – hallo, mein guter Mann, was um Himmels willen ist denn los?«
Auf dem oberen Treppenabsatz wären wir beinahe mit Sir Henry Baskerville zusammengestoßen. Sein Gesicht war zornig gerötet, und er hielt einen alten staubigen Schuh in der Hand. Er war so wütend, dass er kaum sprechen konnte, und als er endlich Worte fand, trat sein breiter amerikanischer Akzent viel deutlicher hervor als am Vormittag.
»Die wollen mich hier im Hotel wohl für dumm verkaufen!« rief er. »Aber sie werden schon merken, dass sie mit ihren dämlichen Späßen an den Falschen geraten sind. Sie sollen sich in Acht nehmen! Teufel nochmal, wenn der Kerl nicht sofort meinen Schuh wiederfindet, gibt es Ärger! Ich kann einen Spaß vertragen, Mr Holmes, aber das geht zu weit.«
»Sie suchen immer noch Ihren Schuh?«
»Ja, Sir, und ich werde ihn finden!«
»Aber Sie sagten doch, es sei ein neuer hellbrauner Stiefel.«
»War es auch. Und jetzt ist es ein alter schwarzer Schuh.«
»Was? Wollen Sie etwa sagen …«
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