1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Im schlimmsten Fall kann der Versuch, sich Schamgefühle zu ersparen, indem man andere verbal oder physisch angreift, Beziehungen oder ein ganzes Leben zerstören. Wenn wir zum Alkohol greifen, um Ängsten auszuweichen oder traumatische Erinnerungen auszublenden, können wir alles verlieren, was wir haben oder uns jemals erträumten. Die eigene Haut zu ritzen, um sich Erleichterung von emotionalem Schmerz zu verschaffen, löst gar nichts. Die Herausforderung besteht darin, sich den eigenen Schwierigkeiten mit urteilsfreiem Gewahrsein und Mitgefühl zuzuwenden.
Den Mittelweg finden
Es ist viel verlangt, sich unangenehmen Empfindungen zu öffnen. Als ich beschloss, mir zu erlauben, vor meinem Publikum zu zittern, musste ich mir erst einmal klar machen, was das wirklich bedeutet. Nicht nur darüber nachzudenken, sondern die Szene tatsächlich schaudernd zu durchleben: wie die Leute über mich lachen, sich gegenseitig auf meine armselige Vorstellung hinweisen und sich verächtlich abwenden. Nur so konnte ich sehen, dass mein Leben weitergehen würde, wenn ich ein lausiger Redner wäre. Es war eine Art Desensibilisierung: Ich gewöhnte mich in meiner Vorstellung daran. Glücklicherweise oder leider konnte ich dabei auch auf ein paar reale Erfahrungen zurückgreifen.
Manche Menschen können da einfach hineinspringen und ihr emotionales Leid annehmen. Andere brauchen mehr Zeit. Sich in dieses Wildwasser zu stürzen funktioniert bei einigen, aber die Bereitschaft dazu ist kein Hinweis auf besondere Tapferkeit – vor allem, wenn man nicht schwimmen kann. Man muss sich sicher und kompetent fühlen, wenn man diesen ersten Schritt auf den eigenen Schmerz zugeht.
Bei den meisten von uns löst die Vorstellung, sich dem eigenen emotionalen Schmerz zu öffnen, bestimmte Befürchtungen aus. Depressive Menschen fürchten vielleicht, von ihren Gefühlen überwältigt zu werden und im Alltag nicht mehr funktionieren zu können. Menschen mit Angststörungen machen sich Sorgen, es könnte sie zurückwerfen und ihnen eine weitere Panikattacke bescheren, die sie so schnell nicht wieder vergessen würden. Traumatisierte Menschen erwarten, von schrecklichen Erinnerungen eingeholt zu werden, die sie tagsüber quälen könnten. Menschen, die in einer schwierigen Ehe ausharren, befürchten vielleicht, im Hinblick auf ihre Beziehung etwas verändern zu müssen, wenn sie sich erlauben, zu fühlen, wie schlimm es wirklich geworden ist. All das könnte tatsächlich passieren und wir müssen auf solche Dinge vorbereitet sein.
Der Sinn und Zweck dieses Buches ist, Ihnen das notwendige Wissen und die Fertigkeiten zu vermitteln, die Sie brauchen, um dem Leid aus einer Position der Stärke begegnen zu können. Eines kann Ihnen dieses Buch allerdings nicht geben: die Intuition, ob es für Sie zu einem bestimmten Zeitpunkt sicher ist, sich Ihrem Schmerz zu öffnen. Das müssen Sie selbst entscheiden. Wir alle sind empfindsame Wesen, auch wenn wir es nicht zeigen. Wir haben ein zartes Nervensystem. Lernen Sie, Ihrer Intuition zu trauen, um zwischen „Sicherheit“ und „Leiden“ zu unterscheiden. Sich verletzlich oder unwohl zu fühlen bedeutet nicht unbedingt, dass man nicht sicher ist: „Schmerz“ ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit „Schaden“. Wollen Sie Ihr Leben ganz leben, ist es wichtig, diesen Unterschied zu kennen.
Wir nehmen im Allgemeinen alle möglichen Unannehmlichkeiten in Kauf, um ein sinnvolles Leben zu führen. Ist es Ihnen beispielsweise wichtig, Kinder zu haben, werden Sie wahrscheinlich das Risiko einer schmerzhaften Geburt eingehen, um Ihren Traum zu verwirklichen. Weisheit ist, die kurz- und langfristigen Konsequenzen des eigenen Handelns zu erkennen und den Weg zu wählen, der den größten langfristigen Nutzen und Segen bringt. Trotz mancher Hindernisse seinen tiefsten Überzeugungen und Werten treu zu bleiben, ist weise, weil es uns langfristig glücklich macht.
Am besten ist es, einen „Mittelweg“ zu suchen zwischen der Konfrontation mit unseren emotionalen Problemen und dem Umgehen derselben. An einem Tag fühlen Sie sich vielleicht eher schwach und unfähig, sich Ihren Herausforderungen zu stellen. In diesem Fall können sie vielleicht warten. Stellen Sie sich vor, Sie sind im Skiurlaub. An manchen Tagen haben Sie vielleicht Lust, besonders schwierige Hänge zu bezwingen, und an anderen wollen Sie einfach nur in der Skihütte sitzen und heiße Schokolade schlürfen. Wenn Sie versuchen, einen steilen Hang hinunterzufahren, ohne innerlich bereit zu sein, könnten Sie einen Skiunfall haben. Bleiben Sie andererseits immer auf dem Anfängerhügel, werden Sie nie die Freude erleben, „es geschafft zu haben.“ Wenn Sie wählen können, sollten Sie neue Herausforderungen nur annehmen, wenn es Ihnen gut geht und Sie innerlich bereit sind. Geben Sie aber auch nicht auf!
Manche Leute fragen sich, wie Antidepressiva und angstlösende Medikamente in dieses Bild passen. Sind das nicht bloß Formen der Vermeidung, die emotionale Herausforderungen wegschieben oder verdecken? In manchen Fällen mag das zutreffen, aber im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass wir gar nicht in der Lage sind, an unseren Problemen zu arbeiten, wenn wir von Angst und Trauer überwältigt oder völlig verwirrt sind. Vermeidung ist gut, wenn sie uns hilft, wieder klarer zu sehen. In diesem Sinne können Medikamente das emotionale Leid wieder überschaubar machen. Manche Menschen können ihre Medikamente irgendwann mit Hilfe von Selbsthilfetechniken, wie sie auch in diesem Buch beschrieben werden, reduzieren.
Der menschliche Geist hat seine eigenen natürlichen Mechanismen, negativem Stress auszuweichen. Dazu zählen unsere „Verteidigungsstrategien“ wie „Verleugnung“, „Projektion“ und „Abspaltung“. Mit Abspaltung bezeichnet man gewöhnlich die Tendenz des menschlichen Geistes zum Schwarz-Weiß-Denken, wenn wir uns bedroht fühlen: „Er ist nur gut, sie ist nur schlecht.“ Solches Denken tröstet uns. Verleugnung ist die Weigerung, bedrohliche Dinge wie den Alkoholismus oder eine Affäre des Partners zu akzeptieren. Bei einer Projektion überträgt man die eigenen inakzeptablen Gefühle auf einen anderen Menschen, um sich mit sich selbst besser zu fühlen: „Er ist ein Rassist“ oder „Sie ist nur eifersüchtig.“
Verteidigungsmechanismen sind ein wesentlicher Faktor zur Aufrechterhaltung des emotionalen Gleichgewichts, weshalb wir ihnen wohl oder übel eine Berechtigung zugestehen müssen. So kann es beispielsweise klug sein, vor der Affäre des Partners die Augen zu verschließen (Verleugnung), bis man die Kraft hat, sich damit auseinanderzusetzen. Es nützt niemandem, wenn wir uns von unseren Gefühlen überwältigen lassen und nicht mehr fähig sind, im Alltag zu funktionieren. Außerdem können manche vorübergehenden emotional schmerzhaften Zustände durchaus erfolgreich ausgeblendet werden – wenn sie nie zurückkehren, umso besser. Unsere psychischen Verteidigungsmechanismen sollen unser Leben aber nicht beherrschen oder unnötig kompliziert machen.
Auf die hedonistische Tretmühle zu steigen, um Angenehmes zu erleben und Schmerz zu vermeiden, kann manchmal sogar positiv sein. Wie können Sie denn je glücklich sein, wenn Sie nicht tun, was Ihnen Freude macht? Wer, wenn nicht Sie, wird kurz- oder langfristig Ihre Bedürfnisse befriedigen oder kann überhaupt wissen , was Sie brauchen, um glücklich zu sein? Für die meisten Erwachsenen sind jene Zeiten, da andere ihre Bedürfnisse besser kannten als sie selbst, lange vorbei. Wir müssen die Verantwortung für unsere innere Zufriedenheit übernehmen, und alles, was uns Freude macht, weist uns den Weg. Es ist jedoch zu hoffen, dass wir uns für langfristige Freuden entscheiden, beispielsweise die Freude an einem gesunden Körper, an geistiger Bereicherung und die Freude, anderen etwas Gutes zu tun.
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