• Achtsamkeit bedeutet nicht, dem Schmerz zu entkommen. Das zu akzeptieren fällt uns wohl am schwersten, denn wir tun selten etwas ohne den Wunsch, uns besser zu fühlen. Sie werden sich mit Achtsamkeit und Akzeptanz besser fühlen, aber nur, indem Sie lernen, nicht vor dem Schmerz davonzulaufen. Der Schmerz ist wie ein wütender Stier: In einer engen Box eingesperrt wird er wild und versucht auszubrechen, aber auf freiem Feld beruhigt er sich. Achtsamkeit schafft emotionalen Raum für den Schmerz.
Die Praxis der Achtsamkeit im Alltag
Achtsamkeit im Alltag ist eine „informelle“ Meditationspraxis. Kurze Augenblicke achtsamen Gewahrseins können den im Laufe des Tages aufgebauten Stress erheblich reduzieren. Außerdem fühlt es sich gut an, einfach nur zu sein, und sei es auch nur für ein paar Sekunden.
Mit informeller Praxis ist gemeint, dass wir uns bewusst dafür entscheiden, dem Aufmerksamkeit zu schenken, was im Augenblick vor sich geht. Jede momentane Erfahrung ist ein lohnendes Objekt für Achtsamkeit. Das kann bedeuten, dass wir den Vögeln lauschen, unser Essen bewusst schmecken, beim Gehen die Erde unter unseren Füßen spüren, den festen Griff unserer Hände am Lenkrad wahrnehmen, physische Empfindungen identifizieren, indem wir den Körper geistig sozusagen „abtasten“, oder unseren Atem bewusst wahrnehmen. Es könnte auch so etwas Einfaches sein, wie mit den Zehen wackeln. Der gegenwärtige Augenblick befreit uns von unserer „Gedankenmühle“, be- oder verurteilt uns nie und ist unendlich unterhaltsam.
Auch kurze Achtsamkeitsübungen sollten in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden. Ein Artikel in einer psychologischen Fachzeitschrift beschreibt einen 27-jährigen Mann namens James, der geistig leicht zurückgeblieben war und unter einer psychischen Störung litt. Mehrmals wurde er wegen aggressiven Verhaltens in eine Klinik eingewiesen. Während eines solchen Klinikaufenthaltes erhielt er fünf Tage lang zweimal täglich ein Achtsamkeitstraining sowie Anweisungen für die darauffolgende Woche, in der er allein üben sollte. Die Trainingsanweisung lautete folgendermaßen:
• Stell oder setz dich so hin, dass die Fußsohlen flach auf dem Boden aufliegen.
• Atme normal.
• Denk an etwas, das dich wütend macht.
• Richte deine Aufmerksamkeit auf deine Fußsohlen und warte, bis du innerlich wieder ruhig wirst.
Von nun an praktizierte James immer, wenn er wütend wurde, diese „Fußsohlen-Meditation“. Ein Jahr später hatte sich sein aggressives Verhalten signifikant gebessert, er konnte alle Medikamente absetzen und seine Betreuer betrachteten ihn nicht mehr als psychisch krank.
Einen individuellen Zugang zur Achtsamkeit finden
Denken Sie daran, dass Achtsamkeitsübungen, die Sie für sich selbst entwickeln, vor allem eines sein sollten: so angenehm wie möglich. Sie sollen Ihnen Spaß machen. Achtsamkeit stellt sich ganz von selbst ein, wenn uns eine Sache Freude macht. Alle Achtsamkeitsübungen schließen normalerweise drei Elemente ein:
• Innehalten
• Beobachten
• Zurückkehren
Innehalten
Zunächst müssen wir einmal innehalten bei dem, was wir tun. Wenn Sie mit jemandem am Telefon streiten, können Sie einen Moment still sein. Wenn Sie im Stau stehen und sich Sorgen darüber machen, dass Sie vielleicht zu spät kommen, können Sie einmal bewusst tief ein- und ausatmen. Dinge langsamer zu tun macht es uns ebenfalls leichter, achtsam zu sein. Wenn Sie langsamer essen, werden Sie bewusster wahrnehmen, was Sie zu sich nehmen, und geben damit Ihrem Körper vielleicht sogar eine Chance, Ihnen mitzuteilen, wann er genug hat. Wenn Sie langsamer gehen, bekommen Sie mehr von der Umgebung mit.
Beobachten
Beim Beobachten geht es nicht um Distanziertheit oder übertriebene Objektivität. Nein, Sie wollen ein „teilnehmender Beobachter“ sein, der innerlich von der Erfahrung berührt wird. Das Leben pulsiert in Ihnen und Sie sind mittendrin; dennoch können Sie beobachten.
Wenn Sie ruhiger werden wollen, ist es hilfreich, sich auf ein einziges Objekt zu konzentrieren, beispielsweise den Atem. Wollen Sie genauer untersuchen und besser verstehen, was Sie im Moment fühlen, können Sie Ihren Körper geistig „abtasten“ und Ihre Gefühle in Worte fassen: „Wut“, „Angst“, Traurigkeit“. (Im folgenden Kapitel erfahren Sie mehr über Achtsamkeit und Gefühle).
Zurückkehren
Wenn Sie merken, dass Sie sich in Tagträumen verlieren, kehren Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit einfach wieder zum Objekt Ihrer Beobachtung zurück. Falls Sie sich in der Natur aufhalten und Ihre Umgebung achtsamer wahrnehmen möchten, müssen Sie sich vielleicht immer wieder auf die Geräusche des Waldes konzentrieren. Sind Sie gerade beim Gemüseschneiden, wollen Sie mit Sicherheit auf die Entfernung zwischen Ihrem Finger und der Messerklinge achten. (Je näher unsere Finger der Klinge kommen, desto leichter fällt es uns, achtsam zu sein!)
Bewusstes Atmen
Immer wenn Sie sich innerlich blockiert fühlen oder verwirrt sind, können Sie die Situation zunächst mit einem bewussten Atemzug entspannen: Halten Sie einfach einen Moment inne und spüren Sie Ihren Atem. Sie können jederzeit und überall bewusst atmen: wenn Sie mit dem Auto an einer roten Ampel stehen, während einer Konferenz oder wenn Ihr Kind einen Wutanfall hat. Lassen Sie sich auf die aufbauende Erfahrung des Atmens ein. Wenn Sie dann ruhiger geworden sind und wieder klarer denken können, können Sie entscheiden, was als Nächstes zu tun ist. Bewusstes Atmen ist die einfachste und beliebteste Achtsamkeitstechnik. Die Herausforderung besteht darin, sich inmitten des oft hektischen Alltags daran zu erinnern.
Achtsames Gehen
Die Geh-Meditation ist eine wunderbare Methode, besonders wenn man den ganzen Tag über gesessen hat und ein bisschen Bewegung braucht. Achtsames Gehen kann als formale, 20- bis 30-minütige Meditation praktiziert werden oder als „Kurzstrecke“, beispielsweise, wenn Sie zur Bushaltestelle oder vom Auto zum Lebensmittelgeschäft gehen. Bei jedem Auftreten auf dem Gehweg können Sie meditieren. Ein meditativer Spaziergang durch den Wald bietet natürlich eine besondere Gelegenheit, sich für die Schönheit der Natur zu öffnen.
Im nächsten Kapitel richten wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Gefühle: Was sind sie? Woher kommen sie? Wie kann uns Achtsamkeit helfen, mit ihnen umzugehen, und wieso funktioniert das?
Achtsames Gehen
Die Übung sollte 10 Minuten oder länger dauern. Suchen Sie sich einen ruhigen Ort in Ihrer Wohnung, wo Sie mindestens sieben bis zehn Meter geradeaus oder im Kreis gehen können. Beschließen Sie ganz bewusst, diese Zeit zu nutzen, um achtsames, liebevolles Gewahrsein im gegenwärtigen Moment zu üben.
• Bleiben Sie einen Augenblick still stehen, um Ihre Aufmerksamkeit im Körper zu „verankern“. Nehmen Sie Ihren Körper in dieser Position bewusst wahr. Spüren Sie Ihren Körper.
• Beginnen Sie nun, langsam und bewusst zu gehen. Nehmen Sie bewusst wahr, wie es sich anfühlt, einen Fuß zu heben, einen Schritt nach vorne zu machen und den Fuß abzusetzen, während der andere Fuß sich vom Boden löst. Nun machen Sie das Gleiche mit dem anderen Fuß. Achten Sie immer wieder auf Ihre Empfindungen beim Anheben, Tragen und Absetzen. Sie können dabei auch die Worte „Anheben“, „Tragen“ und „Absetzen“ aussprechen, um sich auf die Aufgabe zu konzentrieren.
• Wenn Ihre Gedanken abschweifen, kehren Sie immer wieder zur physischen Empfindung des Gehens zurück. Falls Sie das Gefühl haben, sich schneller bewegen zu wollen, nehmen Sie das einfach wahr und kehren innerlich zu den mit dem Gehen verbundenen körperlichen Empfindungen zurück.
• Üben Sie dies mit Zuneigung und Dankbarkeit. Ihre relativ kleinen Füße tragen Ihren ganzen Körper, Ihre Hüften stützen Ihren Oberkörper. Erleben Sie das Wunder des Gehens bewusst.
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