„Ich gebe einen Scheiß auf die Moral … Das war mir egal. Jeder ist ein Schwein.“
Wenn wir alle nur „Schweine“ sind, dann ist es leicht, die höheren Aspekte unseres Charakters zu übersehen und uns auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner unseres Sexualverhaltens zu bewegen. Vielleicht tragen die postorgastischen Wahrnehmungsveränderungen zu einem generellen Zynismus und einer Gleichgültigkeit gegenüber Sex bei. Viele geben der christlichen Religion und ihrer Verurteilung von Sexualität die Schuld an der heutigen ungesunden Einstellung gegenüber Sex (ein Standpunkt, an dem sicher etwas dran ist). Doch als ich nach weiteren Fingerzeigen grub, erfuhr ich, dass Amors Giftpfeil weit über den christlichen Einfluss hinaus datiert.
Beispielsweise gab der römische Dichter Ovid vor zweitausend Jahren den zynischen Rat, den Orgasmus bis zum Punkt des Desinteresses zu verfolgen, um sich „von der Liebe zu heilen“:
Übersättige dich mit ihr
„ … Bist du ein Gefangener der Liebe, aufgrund deiner zärtlichen Gefühle unfähig, zu entkommen? … Geh! Genieße dein Mädchen voller Hingabe, Tag und Nacht. Lass Abscheu deine Krankheit ersetzen. Selbst wenn du das Gefühl hast, genug zu haben, bleib bei ihr, bis du überwältigt bist und Überdruss die Liebe zerstört, so dass du keine Freude mehr an ihrer Gesellschaft hast.“ 37
Oder wie wäre es mit diesen Zeilen aus der alten Griechischen Anthologie ?
Einmal versprochen, kein Mann triebe es toll;
er bliebe bei der Liebsten, die er erkor,
wäre sie nur halb so verheißungsvoll
nach dem Akt wie zuvor. 38
Zu guter Letzt akzeptierte ich, dass die veränderte Wahrnehmung meines Partners von meiner Person, die ich so häufig nach einem Feuerwerk im Schlafzimmer gespürt hatte, nicht einfach nur ein Ergebnis meiner oder seiner Themen war. Es war eine reale Veränderung. Und sie war sowohl unfreiwillig als auch vermeidbar. Und das bedeutete, Paare konnten die Veränderung nur aufhalten, wenn sie sich der zugrunde liegenden Ursache widmeten: sexueller Übersättigung. Was für ein schrecklicher Gedanke!
Ich konsultierte erneut meine heiligen Texte. Da stand es schwarz auf weiß: Geschlechtsverkehr ist wohltuend, doch Orgasmen bringen einen Berg von Problemen mit sich. Symptome sind unter anderem ein Gefühl des Ausgelaugtseins, Reizbarkeit, energetisches Ungleichgewicht, gesundheitliche Probleme, und vor allem eine wachsende Abneigung gegenüber dem Sexualpartner.
„Schließlich kann ein Mann Gefühle der Gleichgültigkeit oder sogar des Hasses für seine Sexualpartnerin empfinden, weil er unterbewusst merkt, dass er bei ihrer Berührung die höheren Energien verliert, die ihn zu einem wahrhaft glücklichen Menschen machen können.“ 39
Es handelt sich hierbei auch um ein weltweites Phänomen. Die Hulis zum Beispiel, Eingeborene von Neu Guinea, die wir auch als „Perückenmänner“ kennen, haben Frauen gegenüber ein traditionelles Misstrauen, denn sie glauben, dass Frauen ihnen ihre Kraft rauben. Die Folge davon ist, dass sie getrennt von ihren barbrüstigen Frauen leben und auch selbst für sich kochen. Sex wird auf eine kurze Begegnung reduziert – nicht ganz unähnlich vielen sexuellen Begegnungen heutiger westlicher Krieger. Nicht alle Perückenmänner tragen auch wirklich Perücken.
Natürlich projizieren Liebende ihr postorgastisches Unbehagen (bewusst oder unbewusst) nicht immer auf ihren Partner. Denken Sie mal darüber nach, was der Psychologe Herb Goldberg in seinem Buch What Men Really Want schreibt:
„Das defensive Naturell des Männlichen erzeugt in Männern eine zutiefst argwöhnische und negative Erfahrung der Welt, die sie als einen Ort betrachten, an dem es nie genug Macht, Kontrolle, Sicherheit oder Unabhängigkeit gibt.“ 40
Da war es, das „Gefühl des Mangels“, das zu einer Abwehrhaltung und einer Mentalität „ich gegen alle“ führt, die mich so irritierte. Wie privat auch der Akt des Geschlechtsverkehrs sein mochte, seine Auswirkungen prägten möglicherweise auch unsere kollektive Erfahrung mit. Denn mit Sicherheit verfolgen in jedem Augenblick viele von uns heißen Sex und sexuelle Übersättigung, was das Zeug hält. Und viele andere von uns sehnen sich nach einem Liebsten – ein weiteres Empfinden von „Mangel“. Die Konsequenzen erschütterten mich ziemlich.
Die Welt ist voll von Offensichtlichkeiten, die niemand jemals auch nur annähernd bemerkt.
Sir Arthur Conan Doyle
Und als meine Erleuchtung weiter voranschritt, hatte ich das Gefühl, einen Elefanten in meinem Wohnzimmer entdeckt zu haben, der dort die ganze Zeit über gewesen war, all meine Beziehungen kopflos zertrampelt und die Wahrnehmung meiner Liebhaber von mir vernebelt hatte. Sorgte er, zusammen mit den Elefanten all der anderen Menschen, auch für die Empfindungen von Mangel und Abwehr um den ganzen Erdball herum?
Objekte im Spiegel können uns näher sein, als es scheint
Meine Freundin Anja hatte einen neuen Freund. Er war in einem Kulturkreis aufgewachsen, in dem künstliche Geburtenkontrolle quasi nicht existierte. Er hatte schon als Teenager gelernt, die Ejakulation beim Geschlechtsverkehr zu vermeiden, um die Chancen für eine Schwangerschaft zu verringern. Für ihn war es ganz natürlich, beim Sex mit ihr auch weiterhin darauf zu verzichten. Sie war begeistert. Ihr gemeinsames Liebesspiel war phantastisch, kosmisch, endlos (einmal als ich versuchte, sie zu erreichen, war der Telefonhörer vier Tage lang ausgehängt …) und ihre Fähigkeit, multiple Orgasmen zu erleben, kam vollends zur Blüte.
Und doch wurden Risse in ihrer Beziehung sichtbar. Ein paar Wochen, nachdem ihre Beziehung so vielversprechend begonnen hatte, rief sie mich an und fragte zögernd: „Meinst du vielleicht, dass es auch bei Frauen problematisch ist, wenn sie einen genitalen Orgasmus haben…?“ Ich hörte gut zu. Denn auch ich hatte in den vorangegangenen Monaten endlich einen Mann gefunden, der sich leicht selbst kontrollieren konnte, doch dem es offenbar Freude bereitete, dass ich so mühelos zum Höhepunkt kam. Und wir erlebten keineswegs die mystische Glückseligkeit und Einheit, von der ich in den Büchern über heiligen Sex gelesen hatte. Statt dessen bemerkte ich unschöne emotionale Reibungspunkte, die immer wieder zwischen uns aufflammten.
Autoaufkleber für Frauen:
Nächster Stimmungswechsel: in 6 Minuten
Völlig gestresst und keiner da zum Erwürgen.
Sie haben das Recht zu schweigen, also halten Sie die Klappe!
Achtung: von null auf „Zicke“ in 8 Sekunden
Fang gar nicht erst etwas mit mir an – Du kannst nicht gewinnen.
Die Auswirkungen des weiblichen Orgasmus bleiben meist unerkannt, denn die meisten – selbst esoterischen – Hinweise auf den Orgasmus der Frau gehen in die Richtung, dass er unproblematisch sei, weil Frauen keinen Samen verlieren. Jahrelang fiel ich fröhlich auf diese Annahme herein. Doch jetzt war es offenbar so weit, dass sich mir einige unliebsame Wahrheiten aufdrängten.
Von diesem Tag an verglichen Anja und ich unsere Aufzeichnungen wie Wissenschaftlerinnen in einem Labor. Unabhängig von anderen Variablen, die uns als Paare beeinflussten, kam es innerhalb von einer oder zwei Wochen nach einem Orgasmus (auch wenn nur die Frau einen hatte) zu Problemen. Anja neigte zum Jammern, wurde übersensibel, uneffektiv und entmutigt. Ich hingegen entwickelte eine scharfe Zunge, war ungeduldig, pessimistisch und konzentrierte mich nur noch auf die Analyse der offensichtlichen Unvereinbarkeiten zwischen mir und meinem Freund. Wir wurden von Stimmungsschwankungen heimgesucht, die wir früher auf den Postejakulationsblues unserer Partner geschoben hatten. Was war los?
Читать дальше