Mit dieser Reise fing alles an schiefzulaufen, die Geschichte zwischen dir und mir. Und damit muss ich anfangen.
Ich wusste, dass ich niemals direkt in Kabul würde einreisen dürfen, also nahm ich den Umweg über Moskau und Tadschikistan, dann mit einem Hubschrauber nach Khoja Bahauddin, dem Sitz der Nord-Allianz, einer trostlosen afghanischen Wüstenstadt mit schlammfarbenen Häusern, die nahtlos aus dem Boden ragen und deren Wände allesamt aus der gleichen tristen Erde geformt sind, Kamele und Esel, die Brennholz transportieren – kein Strom, keine Kanalisation, kein fließendes Wasser, keine gepflasterten Straßen. Ich suchte mir einen Fahrer und einen Dolmetscher. Mein Freund Tim, ein Reporter von der Washington Post , besorgte uns eine Mitfahrgelegenheit, und gemeinsam fuhren wir in einem alten russischen Jeep durch den Hindukusch, über reißende Flüsse, staubige Gebirgsausläufer, Wüstenebenen, vorbei an Soldaten, die zum Gebet knieten, die Krümmung ihrer Rücken glich der Form der Berge hinter ihnen. Wir kamen durch Dörfer, deren Bewohnerinnen und Bewohner in der klirrenden Kälte barfuß gingen, und übernachteten in verdreckten Pensionen, wo wir fettiges Ziegenfleisch und Naan-Brot aßen und uns dann in alles einwickelten, was wir fanden, um so gut es ging zu schlafen. Die Landschaft war außergewöhnlich: Riesige Felswände ragten über uns auf, durchzogen von Sturzbächen, die weit unter uns außer Sichtweite aufplatschten.
Es dauerte eine Woche, bis wir die Shomali-Ebene erreichten, Niemandsland, eine Pufferzone zwischen der Nord-Allianz und den Taliban – ein trostloser, windiger Ort, getupft mit Häusern, die von Einschusslöchern durchsiebt waren, zerstörten Panzern und ausgebrannten Jeeps. Leichen lagen in verrenkter Haltung im Staub, die Beine verdreht, die Köpfe in den Nacken geworfen. Plastiksandalen lagen verstreut auf der Straße, neben Kleidungsstücken und dunklen Blutspritzern.
Wir erreichten die Kuppe eines Hügels, und plötzlich lag Kabul unter uns, eine riesige Ansammlung von niedrigen Häusern, hier und da unterbrochen von Wohnblöcken im sowjetischen Stil. Der Anblick war großartig: eine Stadt, umgeben von einem Ring aus Bergen und dahinter noch mehr Berge mit weißen Spitzen. Die Sonne verschwand am Horizont und tauchte die Berge in ein sanftes rosa Glühen. Lichter gingen an, das erste Anzeichen von Elektrizität, das ich seit meiner Ankunft sah, kleine Glühwürmchen, die die Hänge tupften.
Ich fragte mich, was wir wohl vorfinden würden, wenn wir in der Stadt ankamen. Das Bild von Kabul, das ich im Kopf hatte, war aus Berichten in den Nachrichten und einer Handvoll verblichener Fotos zusammengesetzt. Edith hatte Kabul 1968 besucht, auf einer langen, abenteuerlichen Reise in einem Land Rover von London nach Kalkutta. Auf ihren Fotos fuhren Frauen in Kleidern Bus und Kinder rutschten auf Spielplätzen knallbunte Rutschen hinunter. Die Berichterstattung aus der Zeit, als die Taliban an der Macht waren, sah völlig anders aus: Frauen, reduziert auf stumme blaue Gestalten; das geheime Filmmaterial von der öffentlichen Hinrichtung einer dieser Frauen im Fußballstadion von Kabul: auf der Ladefläche eines LKW herbeigebracht und gezwungen, sich hinzuknien, dann in den Kopf geschossen, während ihre sieben Kinder zusahen und weinten.
Jetzt lag die Stadt in Trümmern. Wir fuhren an einem Häuserblock nach dem anderen vorbei, an Häusern ohne Dächer oder Wände, Löcher klafften, wo einst Fenster gewesen waren. Die Fassaden waren mit Einschusslöchern übersät, die Wände von Panzergeschossen aufgerissen. Balken und Träger ragten in absurden Winkeln hervor und hielten das Wenige, was noch übrig war, zusammen. Filigrane Balkone hingen, jetzt von Rissen durchzogen, an den Fassaden einst anmutiger Häuser. Überall Schutthaufen. Als es Abend wurde, erfüllte Rauch die Luft, als Familien kochten oder sich dicht um Feuerstellen kauerten, um warm zu bleiben.
»Es ist wie Dresden«, sagte Tim. »Oder Hiroshima. Scheiße, Jo, was haben wir getan?«
Mahmoud, unser Dolmetscher, hustete. »Das waren nicht die Amerikaner«, sagte er leise. »Das ist schon seit Jahren so. Es waren die Taliban, und vor ihnen war es der Bürgerkrieg, es waren die Mudschahedin. Es waren nicht die Fremden. Wir selbst haben uns das angetan.«
Das Intercontinental Hotel war ein weißes, ziemlich hässliches Gebäude oben auf einem Höhenzug in der Mitte der Stadt. Es war voller Journalistinnen und Journalisten, die um die Zimmer kämpften. Wir waren so schnell herbeigeströmt, wie es uns gelang, jemanden zu überreden, uns herzubringen – die einzige Spezies auf der Welt, die auf Krisenherde zu rennt, anstatt vor ihnen davonzulaufen. Ich hatte es geschafft, ein Bett in einem Zimmer mit Molly zu ergattern, einer CNN-Korrespondentin, mit der ich in Sierra Leone gewesen war. Wie üblich hatte sie eine Flasche Gin organisiert. Wir mischten ihn mit ein paar Dosen saurer Limonade und saßen in unsere Schlafsäcke eingemummelt da und tranken ihn aus angeschlagenen Gläsern.
»Was hat euch aufgehalten?«, fragte sie.
Es war erst drei Tage her, seit die Taliban gestürzt worden waren. Molly war eine der ersten JournalistInnen gewesen, die nach Kabul gekommen war, still und heimlich über die Grenze zu Pakistan.
»Es war total verrückt«, sagte sie. »Die Straße war voller Taliban, lange Schlangen dieser weißen Toyotas, die bin Laden bezahlt hat, alle mit Frauen und Kindern vollgestopft, und das Gepäck stapelte sich bis oben auf dem Kofferraum. Erinnerte mich an die Ausfallstraßen von New York am Labor Day.«
Alles, was ich wollte, war, mich mit ihr zu betrinken und zu quatschen, aber nach dem ersten Gin stand sie auf und ging zu dem Tisch in der Ecke hinüber, fuhr sich mit einem Lippenstift über den Mund und bürstete sich die Haare.
»Ich bin gleich auf Sendung«, sagte sie. »Vom Dach. Komm doch mit und schau zu, wenn du möchtest.«
Das Dach war voller KorrespondentInnen, Kameras und Satellitenschüsseln, angetrieben von einer Reihe Generatoren, einem für jeden Nachrichtensender. Ich arbeitete zum ersten Mal auf eigene Rechnung – ohne Vertrag, ohne Deadline, ohne Chef. Um überhaupt eine Chance im Konkurrenzkampf zu haben, musste ich jemanden finden, der mir half, und zwar schnell: einen Übersetzer, eine Ortskraft, jemanden, mit dem ich zusammenarbeiten konnte, jemanden, dem ich vertrauen konnte. Von dieser Person würde es abhängen, welche Art von Aufnahmen ich würde schießen können.
Früh am nächsten Morgen ignorierte ich die Angebote der Gruppe von Männern draußen vor den Toren des Hotels und nahm ein Taxi zum Basar. Die Stadt sah noch schlimmer aus als am Abend zuvor – das helle Sonnenlicht ließ alles noch desolater erscheinen. Kinder mit von der Mangelernährung orangefarbenen Haaren spielten in offenen Gossen; streunende Hunde suchten nach etwas zu fressen. Männer saßen am Straßenrand, vor sich Dinge ausgebreitet, die zum Verkauf standen: ein Haufen nicht zueinanderpassender Sandalen, Autoersatzteile, Metallschrott.
Ich beugte mich vor, um etwas genauer in Augenschein zu nehmen: eine Ansammlung von etwas, das wie menschliche Knochen aussah. Die Miene des Verkäufers ließ auf nichts Ungewöhnliches schließen – es hätte sich genauso gut um Gemüse oder Blumen handeln können.
Eine Stimme sagte leise auf Englisch: »Ja, das stimmt, das sind Wirbelknochen. Und sehen Sie, da ist auch ein Wadenbein.«
Ich drehte mich um und sah einen Mann, jung, in den Zwanzigern, sein Kinn war fleckig und mit Wattebauschfitzeln bedeckt.
Er bemerkte meinen Blick und lächelte. »Ich bin heute Morgen meinen Bart losgeworden«, sagte er. »Der Barbier war ein bisschen aus der Übung. Mein Name ist Faisal. Salam aleikum.«
»Aleikum asalam . Ich bin Jo.«
»Die Taliban haben uns den Handel mit vielen Dingen verboten. Knochen gehörten zu den wenigen Dingen, die nicht verboten waren.«
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