Meine Jungs hatten nicht viel damit zu tun. Weihnachten ist für sie ein Tag wie jeder andere, obwohl mein Sanitäter in der Nacht zuvor auf die deutschen Schützengräben wies, wo ich eine Reihe kleiner, von Kerzen beleuchteter Bäume sah .
»Wie Diwali«, sagte er .
Habe ich Dir jemals von Diwali, dem hinduistischen Lichterfest, erzählt? Ich habe es als Junge in Kalkutta geliebt. Die ganze Stadt leuchtet; man stellt überall Lichter auf – in den Häusern, auf den Straßen – um Wohlstand und Glück einzuladen .
Glück können wir wahrhaftig gut gebrauchen. In den letzten Wochen war es besonders scheußlich, da sich das Wetter noch verschlechtert hat. Die Männer sind in übler Verfassung, und die Moral ist auf dem Tiefpunkt .
Mir fehlen die Worte, um den Morast zu beschreiben: ein elender, stinkender Schlamm, der überall lauert und sich an den Stiefeln festsaugt wie eine grässliche Kreatur aus der Tiefe. Vor zwei Tagen fand ich drei meiner Sepoys fast bis zu den Achseln darin steckend, zusammengekauert und im Schlaf stöhnend. Ich weckte sie und holte sie raus und fand für jeden einen Mann, der sie warm rieb und für ein paar Stunden außerhalb des Schützengrabens ins Trockene brachte, bis der Morgennebel sich auflöste und ich keine andere Wahl mehr hatte, als sie wieder hineinzubeordern, was sich furchtbar falsch anfühlte .
Aber es gibt auch eine gute Nachricht inmitten all dieser Düsternis. Mein Urlaub ist genehmigt worden: eine Woche, beginnend am 7. Februar. Ich werde Mutter und Vater in Aldershot besuchen, und dann würde ich sehr gerne zu Dir kommen. Die letzten zwei Monate sind sehr langsam vergangen und gleichzeitig sehr schnell, wenn das überhaupt einen Sinn ergibt .
Ich hoffe, dass es Dir gutgeht!
In Liebe
Robert
Armer, armer Robert. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie das Leben in den Schützengräben ist, obwohl ich nach dem Zustand unserer Patienten eine ungefähre Ahnung habe. Ich freue mich so sehr darauf, ihn wiederzusehen und eine richtige Unterhaltung zu führen. Seinen Brief habe ich erst heute Abend erhalten; die Zeitungen haben bereits berichtet, wie er es vorausgesagt hat, und Photos vom Waffenstillstand veröffentlicht. Nach allem, was man über die Sauerkrauts, die Nonnen überfallen und Kinder verstümmeln, in eben diesen Zeitungen gelesen hat, ist es seltsam, deutsche Soldaten zu sehen, die neben gewöhnlichen Tommies stehen und Weihnachtslieder singen. Abgesehen von ihren Uniformen sehen sie fast genau gleich aus.
Es ist Guy Fawkes Night, Suze. Ich habe mich nicht geändert. Die Vorhänge sind zugezogen, und ich trage Ohrstöpsel, um den Lärm auszublenden. Dieses Geblitze und Geknalle, das schreckliche Pfeifen, wenn das Feuerwerk losgeht, werden mich immer an Mörserattacken erinnern. Weißt du noch das Silvesterfeuerwerk auf dem Primrose Hill, als ich mich zu Boden warf und mir die Ohren zuhielt? Ich konnte nicht anders, es war eine reine Reflexhandlung.
Ich werde mich nicht noch einmal zur Närrin machen. Ich bleibe lieber daheim und fahre mit meiner Geschichte fort.
Afghanistan, Mai 2011. Zehn Jahre nach dieser ersten Reise. Ich würde mich nicht an die vorderste Front begeben. Das geht heute nicht mehr, es sei denn, man ist bei den Truppen eingebettet, um Fotos durch den Filter dessen, was die Armee erlaubt, zu machen. Das wollte ich nicht noch einmal mitmachen. Mich interessieren immer schon die Dinge, die ich nicht sehen soll, die Dinge, die sie lieber verborgen halten.
Ich würde in Kabul eingesperrt sein, aber das war mir recht. Zum ersten Mal handelte ich gegen meinen journalistischen Instinkt und hielt mich von der Hauptstory fern. Hätte ich mitten im Geschehen sein wollen, wäre ich mit allen anderen nach Ägypten, Libyen oder Syrien gereist, auf der Jagd nach der Story, um die News sofort nach den Geschehnissen zu haben. Afghanistan ist ein langer Krieg, ein müder Krieg, ein langwieriger Krieg, ein Krieg, der auf dreißig Jahre andere Kriege folgt. Osama bin Laden ist weg, und der Großteil der Presse auch. Die Welt hat sich weitergedreht, auch wenn die Truppen bleiben und die Taliban zurück sind, sich in Hochburgen sammeln, stärker werden, sich neu formieren und darauf warten, dass die Ausländer abziehen.
Das mit der freien Tätigkeit hatte beim ersten Mal nicht so richtig geklappt, wie du weißt. Ich war zu unerfahren, konnte nicht wirklich mithalten. Es kostet eine Menge, aus einem Krisengebiet zu berichten, und ich erkannte bald die Vorteile einer Lebensversicherung, von Satellitenkommunikation, von Unterstützung am anderen Ende des Telefons. Also kehrte ich zu einem richtigen Job zurück, zu Anrufen des Büroleiters, zu kurzfristigen Flügen an schreckliche Orte, um Fotos von all dem Entsetzlichen zu machen, das dort geschah, und sie meinem Redakteur zu schicken in der Hoffnung, dass niemand vor mir dort gewesen war.
Nach einem Jahrzehnt hatte ich genug. Es gab diesen einen Moment im Irak, als ich Fotos von Raketen am Nachthimmel machte und mir plötzlich klar wurde, dass ich dort nicht sein wollte. Die Welt brauchte nicht noch ein Bild von einem ausgebrannten Panzer in der Wüste. Zumindest nicht von mir. Ich wollte die Art, wie ich Dinge tat, ändern, wollte Kontrolle gewinnen, wollte selbst entscheiden, wohin ich ging und was ich tat. In der Vergangenheit, vor nicht allzu langer Zeit, als Elizabeth noch lebte, zogen die Männer auf die Schlachtfelder und kämpften es aus. So sauber und ordentlich ist es nicht mehr. Der Krieg ist das kleine Kind, das sich an die Hand seiner Mutter klammert, nachdem sie mit einer Machete enthauptet wurde. Der Krieg ist der Vater, der sein totes Kind niederlegt, damit es von einem Bulldozer begraben wird, ehe sich die Krankheit ausbreitet. Der Krieg, das sind Flüchtlingslager, Hungersnot, Cholera.
Es gibt mehr in Afghanistan als den Konflikt, aber dieser Konflikt ist mit allem anderen verbunden: mit den Kriegswitwen, die vor den Restaurants der Expats betteln, den kleinen Jungs, die arbeiten müssen, statt zur Schule zu gehen, und den Heroinabhängigen, die keinen anderen Ausweg sehen. Das sind die Dinge, die ich fotografieren wollte, Dinge, die nicht in die Nachrichten gelangen, Dinge, die nicht extrem genug sind, um es in die Zeitungen zu schaffen, aber elend genug für die Menschen, die sie leben müssen. Ich war nicht sicher, was ich in Kabul vorfinden würde, aber ich wusste, dass es Geschichten zu erzählen gab.
Ich nahm ein Flugzeug nach Dubai, dann ein weiteres nach Kabul, flog stundenlang über rotgezackte Berge, Schneegipfel und Schattentäler, hartes, geheimnisvolles Terrain, das mich an die Männer denken ließ, die sich dort über Jahrzehnte immer wieder versteckt haben, um ihren Feinden ein Schnippchen zu schlagen. Als die Berge in flache, unbarmherzige Ebenen übergingen, wusste ich, dass wir es fast geschafft hatten. Bald war die staubige Erde von den geraden Linien eines braunen Gitters durchzogen, gesprenkelt mit kleinen Flecken von Grün. Als das Flugzeug tiefer ging, sah ich Häuser in den Gitterquadraten, ein jedes zusammengekauert innerhalb der Mauern seines Grundstücks. Hangars, gestrichen in der Farbe des Sandes, jede Menge Militärflugzeuge und Hubschrauber, dann die Landebahn, der entscheidende Moment des Aufsetzens.
Da wären wir wieder, dachte ich und bedeckte mein Haar mit einem Schal.
Flughäfen in Kriegsgebieten sind irreführend, an ihnen haften sozusagen die letzten Reste von Normalität, sie sind ein Niemandsland zwischen den Kampfgebieten und dem Rest der Welt, wo die richtigen Papiere noch immer die richtigen Menschen an die richtigen Orte bringen. Ein Ort, an dem es Warteschlangen gibt und Regeln, ordentliche Sitzreihen, Werbung für Coca-Cola. Sobald man jedoch nach draußen tritt, ist man mit der Realität konfrontiert. Am Kabul International Airport war die Ankunftshalle menschenleer, bis auf ein paar grimmig dreinblickende private Sicherheitsleute, die auf einreisende Botschaftsangehörige warteten. Als ich nach draußen trat, den Rucksack auf dem Rücken, die Kamerataschen vorne umgehängt, schlug mir eine Welle gnadenloser trockener Hitze entgegen. Aus Angst vor Selbstmordattentätern lassen sie keine Autos in die Nähe des Flughafens, und so war es ein langer Weg über den Parkplatz bis zu den Taxis. Ich fühlte mich auf Schritt und Tritt beobachtet. Schließlich hatte ich es geschafft. Ich fand ein Taxi, sagte dem Fahrer, wo ich hinwollte und machte es mir bequem für die Fahrt in die Stadt.
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