Jürgen Thaler - Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021

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DIm Mittelpunkt stehen die Beiträge der Felder-Tagung «Neue Lesarten und Perspektiven», die im Frühjahr 2021 stattgefunden hat. Werner Nell (Halle an der Saale) beschäftigt sich mit Literatur und Sozialreform auf dem Land, Jelko Peters (Leer) schreibt über Felders Autobiografie aus der Perspektive von Alfred Adler, David Franzoi (Bregenz) widmet sich Felders «Magerhuber» und Kaspar Moosbruggers «Kulturgesprächen», Solvejg Nitzke (Dresden) betrachtet das Werk Felders unter «ökokritischen» Aspekten, Bernhard Fetz (Wien) vergleicht Felders Autobiografie mit der von Franz Grillparzer. Veröffentlicht wird auch ein Ausschnitt des Felder-Krimis «Sherlock Holmes im Bregenzerwald» von Ulrike Längle (Bregenz). Das Jahrbuch bietet weiters ein Interview von Dominik Denk (Wien) mit dem Felder-Übersetzer David Henry Wilson (Traunton, UK). Auch wird ein Gespräch veröffentlicht, das Jürgen Thaler mit der Regisseurin Bérénice Hebenstreit (Wien), dem Dramaturgen Ralph Blase (Bregenz) und dem Autor Maximilian Lang (Wien) anlässlich der Uraufführung des Felder-Stückes «Sprich nur ein Wort» von Maximilian Lang am Vorarlberger Landestheater geführt hat. Das Protokoll der 53. Jahreshauptversammlung des Franz-Michael-Felder-Vereins sowie der Arbeitsbericht des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek runden diesen spezifisch Felder gewidmeten Jahrgang ab.

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4.

Landreform und Literatur unter Bedingungen der Moderne

Dafür, dass es möglich ist, Gesellschaft als einen umfassenden und zugleich in seiner Totalität auch fassbaren Zusammenhang zu erkennen, ja zu erfahren – und erst recht, wenn es dann darum gehen soll, diese im Ganzen als Handlungsfeld zu gestalten, zu bearbeiten und ggf. zu „verbessern“, wie dies hier unter dem Aspekt der Landreform angesprochen wird –, braucht es natürlich auch eine Schulung der Wahrnehmung, eine auf die Ermöglichung von Kommunikation hin angelegte Form der Beobachtung und Darstellung, also auch die Zusammenstellung von Gegebenheiten zu einer mehr oder weniger kohärenten Geschichte, zudem mit Verweisen auf entsprechende Kontexte. Nicht zuletzt geht es dabei um die Vorstellung, Sichtbarmachung und Plausibilisierung von Individuen und Gruppen in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie sich in der Literatur der Moderne im Anschluss an das 18. Jahrhundert finden und sich so in den Romanen Stendhals, Austens, Trollopes, Gottfried Kellers oder auch Balzacs, später bei Virginia Woolf oder auch William Faulkner und John Cheever, wiederfinden (und lesen) lassen.

Dass dabei der Weg zur Moderne zumal auch in soziologischen und modernetheoretischen Perspektiven an der Entwicklung der Stadt und im Blick auf die aufkommende, sich dann durchsetzende Industriegesellschaft beobachtet und diskutiert wurde, stellte in diesem Rahmen freilich erst einmal nur eine Option dar, an der gemessen die Rolle, der Reichtum und die Aussagekraft von Erfahrungen des Ländlichen allenfalls als Residualkategorie oder als zurückliegender Ausgangspunkt einer Reise, die ins unumkehrbar Moderne führen sollte, angesehen wurde. 36Freilich trifft diese Gegenüberstellung in Wahrheit noch nicht einmal auf die angesprochenen Romane einer klassischen „realistischen“ Literatur selbst zu, in denen gerade doch auch ländlichen Räumen und den Erfahrungen ihrer Bewohner, man denke etwa an Stendhals Le Rouge et le Noir (1830), gerade im Blick auf die Gegenwart des 19. Jahrhunderts beträchtliche Aufmerksamkeit eingeräumt wird. 37Auch aktuell trägt eine solche einlinige Ausrichtung avancierter Literatur auf die Gegebenheiten einer städtisch geprägten Industriemoderne noch immer weder der Bevölkerungsverteilung noch den Erfahrungsschätzen von Menschen unter den Bedingungen fortschreitender gesellschaftlicher und industrieller Modernisierung Rechnung. Vielmehr, so ließe sich im Rückblick auch auf die Dorf- und Landlebensliteratur des 19. Jahrhunderts, innerhalb deren die Konjunktur und Bauformen der Dorfgeschichten einen prominenten, gerade aktuell auch wieder „entdeckten“ Platz einnehmen, 38sagen, stellen sowohl die ländlichen Räume selbst als auch ihre Schilderungen und Gestaltungsformen in der Literatur eine andere, eine weitere Diskursarena dar, wenn es darum geht, sowohl die Prozesse der Modernisierung ganzer Gesellschaften als auch deren Verarbeitung, Wahrnehmung und Ausgestaltung von Seiten beteiligter Individuen und Gruppen zu erkunden. 39

Gerade wenn zudem der Entwicklungsgang moderner Gesellschaften nicht als universell angelegter einliniger Prozess verstanden wird, in dessen Sog nahezu alle Verhältnisse sich bestenfalls in unterschiedlichen Zeitstufen, aber immerhin linear modernisieren, sondern etwa im Rahmen der von dem Soziologen Peter Wagner vorgelegten Moderne-Theorie von Phasen, Etappen und Schüben restringierter, fragmentierter und auch von unterschiedlichen Entwicklungsgängen überlagerter und in sich widersprüchlicher Modernisierung gesprochen werden kann, 40erscheinen ländliche Gesellschaften und Lebensverhältnisse auch nicht mehr lediglich als Residuen vormoderner Prägung, die sich in Auflösung oder im Gange des Verschwindens befinden. Vielmehr stellen sie sich – wie andere Lebensräume auch – als Erfahrungs- und Handlungsräume, zumal aber auch als Symbolvorräte und Kommunikationsangebote dar, in denen unterschiedliche Orientierungen, Erfahrungsschätze, Sinnreservoire und nicht zuletzt deren Verobjektivierungen, auch Verfestigungen und ggf. Verzerrungen zu Traditionen, Institutionen und kulturellen Artefakten anzutreffen sind und die als jeweilige Medien der Aushandlung von Interessen, Konflikten und Optionen zur Verfügung stehen bzw. diese auch entsprechend begrenzen. 41

Selbst dort, wo Ländlich-Dörfliches vor allem als Gegenwelt und zu transformierendes „Andere“ der Moderne gezeigt, ja funktionalisiert wird, bieten Ländlichkeit und Dörflichkeit über die noch bestehenden Verhältnisse hinaus schon von ihrer Bildkraft her zugleich auch einen Imaginations-, Orientierungs- und Erfahrungsschatz dar, 42der nicht nur zur ästhetischen Validierung der in den Texten entworfenen Geschichten, Räume und Charaktere dienen kann, sondern darüber hinaus auch an Erfahrungen, Verhaltensmuster und Erwartungen im Lesepublikum anzuknüpfen vermag, die sich in der eigenen Biografie oder in der intergenerationellen Familiengeschichte noch immer mit den Erfahrungen und Vorstellungen des Ländlich-Bäuerlichen verbinden und durch sie validieren lassen.

5.

Felders Ansatzpunkte zur Sozialreform auf dem Lande

Jenseits von Folklore und Exotik oder auch regressiver Reaktion bieten bspw. die Dorfgeschichten Berthold Auerbachs und so auch die Romane und Erzählungen Franz Michael Felders vor allem Erfahrungsschätze und Verhandlungsstoffe an, anhand deren und in deren Ausarbeitung sich nicht nur eine einseitig sichtbare Durchsetzung der Moderne – mit entsprechenden Verzögerungen im ländlichen Raum und unter Vernachlässigung bzw. Diskriminierung der dort lebenden unterbürgerlichen Schichten – fassen lässt. Vielmehr umfassen und bringen diese Texte und die in sie eingebundenen Referenzen auf die Erfahrung ländlicher Räume und bäuerlicher Gesellschaftsformen, gerade in dem sie die Erfahrungen ländlicher Gesellschaften in das oben angesprochene Kommunikationsmodell einer bürgerlichen Vergesellschaftung und Kultur einbringen, ein für die Entwicklung der modernen Gesellschaften charakteristisches Wechselspiel und Verwebungsverhältnis der Erfahrungen, Formen und Vorstellungen herkömmlich ländlicher Gesellschaften mit Impulsen, Kategorien, Lebensformen und Ansprüchen der Moderne zustande, aus deren vielfältigen Verwicklungen sich dann nicht nur der Stoff der Geschichten, sondern auch die Lebenserfahrungen und Einstellungen, auch Handlungsansprüche und Erwartungen von Menschen auf dem Lande sowohl formulieren als auch erkunden lassen und wie sie zugleich in den Imaginationsräumen der Lesenden einen Wiederhall finden können. Dass sich Felders Schreiben dabei gerade nicht nur an ein ggf. städtisches Publikum wendet, das – sei es zur Unterhaltung oder auch Befremdung – angesprochen werden kann, sondern als Stimme und Sprachrohr der Landbewohnerinnen und Landbewohner für diese zu sprechen sucht und sich überdies auch an sie selbst wendet, unterscheidet den Bauerndichter Felder von anderen, die sich lediglich die Kostüme oder die Folklore des Ländlichen zugunsten eines unspezifischen Marktsegments zu eigen machen, und rückt ihn an die Seite bspw. Berthold Auerbachs (1812 – 1882) oder des von diesem verehrten Johann Peter Hebel (1760 – 1826).

Wenn Jean Paul in seiner autobiografisch ausgerichteten Selberlebensbeschreibung (1826) fordert: „Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen“ 43, so geht es ihm zunächst um die mit der Reduktion der Vielfalt in dörflich-kleinstädtischen Verhältnissen verbundene Konzentration auf die ästhetischen und emotionalen Valeurs der unter diesen Bedingungen wahrzunehmenden Dinge und Personen in Natur und Gesellschaft, dann aber auch darum, das Dorf als Standort der Selbst- und Fremdbeobachtung zu bestimmen. Nicht zuletzt können Dörfer und ländliche Räume auf diese Weise nicht nur als Gegenwelten zu städtischen (und im 18. Jahrhundert noch virulent „höfischen“) Verhältnissen in Erscheinung treten, sondern zugleich als Arenen und Aushandlungsorte der Modernisierung selbst erkundet und vorgestellt werden. In dieser Perspektive erscheinen dann Reformen auf dem Land nicht lediglich als nachholende Entwicklung oder Abfallprodukte in einem über sie hinweg gehenden Modernisierungsprozess, sondern zugleich als Probestücke und Laboratorien, ja auch als andere Wege im Entwicklungsgang und in der Ausgestaltung moderner Gesellschaften selbst. 44

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