1.
Landreform und utopische Orientierung im Medium der Literatur
Literarische Texte, eben auch die von Glückshoffnungen und Glückserfüllungen, nicht zuletzt von deren Scheitern, handelnden Texte Felders, sprechen in diesem Zusammenhang eine mit den belleslèttres verbundene utopische Dimension – auch ihrer Form nach – an. Dies mag dabei sowohl die historische Stelle Felders im 19. Jahrhundert als auch die Möglichkeiten eines Anschlusses an seine Texte unter den Bedingungen weitergehender Moderne von heute aus ausmachen. Was die britische Soziologin Ruth Levitas in ihren Studien zum utopischen Denken als „education of desire“ angesprochen hat: „Utopia creates a space in which the reader is addressed not just cognitively, but experientially, and enjoined to consider and feel what it would be like not just to live differently, but to want differently – so that the taken-for-granted nature of the present is disrupted“ 14, findet sich im Sinne literarischer, imaginativer Wunscherfüllung in Felders Texten wieder – und zwar nicht als Kompensation für ein ansonsten nicht mögliches Tun und Wünschen, sondern als Impuls und Stärkung der mit den Wünschen in Erscheinung tretenden Handlungsoptionen im Blick auf die Entwicklung von Perspektiven zu ihrer Umsetzung.
Von heute aus gesehen erscheinen diese Ansprüche und ihre literarische Umsetzung umso wichtiger, als die englische Übersetzung der angesprochenen Stelle des Kommunistischen Manifests ja bereits über das Historische einer untergehenden Ständegesellschaft hinausgeht und das Abschmelzen jeglicher Bestände und Sicherheiten als das Signum der Moderne ausmacht: „All that is solid melts into air“. Marshall Berman verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass unter den Bedingungen einer anhaltenden Moderne die Unverzichtbarkeit von Ansprüchen auf ein gelingendes Leben ebenso auf ungesicherten Grundlagen basiert, wie diese der konstruktiven, also eben auch ggf. fiktionalen und imaginären Ausformung und Vermittlung bedürfen, um überhaupt zu Realitätspartikeln zu werden. 15Die oben für die Mitte des 19. Jahrhunderts skizzierte Engführung von Literatur und Gesellschaft kann dann zudem als ein Einsatzpunkt angenommen werden, um auch in literarischen Texten ein handfest politisches bzw. sozialökonomisches Thema wie die Forderungen nach Wirtschafts- und Sozialreformen auf dem Land nach beiden Seiten hin zu erkunden und in einen sowohl historischen als auch lebenspraktischen Zusammenhang zu stellen: zur Seite der Sozialreform, in deren Perspektive literarische Texte wie schon Georg Büchners Hessischer Landbote (1834) als Medien gesellschaftlicher Aufklärung und Besserstellung der Landbevölkerung intendiert und zu betrachten sind, und zur Seite der Literatur hin, in deren Kontext ländliche Erfahrungen und Lebenszusammenhänge als Sujet ästhetischer Gestaltung und als Mittel einer narrativen Herstellung von Kohärenz in Erscheinung treten. 16Dass und wie Franz Michael Felders Texte dies leisten, wird im Weiteren vorzustellen und zu diskutieren sein.
2.
Realistische Literatur und Reformansätze
in bürgerlicher Gesellschaft
In seinen Studien zum literarischen Realismus, die sich vielfach auf Erich Auerbachs noch immer lesenswerte Untersuchung Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur (1948) beziehen, spricht Joseph Peter Stern vom „goldenen Überfluß der Welt“ 17, um damit zum einen auf die Detailfülle und Detailbezogenheit der im literarischen Text entworfenen Wirklichkeitsbezüge hinzuweisen. Zum anderen nutzt er diese Metapher aber auch, um auf die durch die ästhetische Geformtheit jeder literarischen Darstellung ebenso wie durch die narrative Verkettung der Geschehnisse und Akteure ermöglichte Überdeterminierung bzw. eben auch Überzuckerung des Wirklichen, durchaus auch im Sinne einer möglichen ideologischen Überformung desselben, aufmerksam zu machen. Nicht zuletzt geht es auch darum, die durch eine krude Abschilderung der gegebenen Welt ggf. auch entstehende Sinnentleertheit, auch Langeweile, Repetierbarkeit und Glanzlosigkeit des Wirklichen in den Spiegeln literarischer Texte in den Blick zu rücken: „Realismus in der Literatur bedeutet in erster Linie die Art, eine Situation in ‚wirklichkeitsgetreuer‘, ‚präziser‘, lebenswahrer Weise darzustellen und zu beschreiben; oder in reicher, üppiger und farbenprächtiger Vielfalt; oder auch auf photographische, schablonenhafte Weise.“ 18
Erwächst der Literatur des literarischen Realismus aus dieser Ausrichtung auf eine gleichsam in der Erfahrung vorgegebene, vermeintlich einfache, also auch oberflächlich nur wahrnehmbare Wirklichkeit aus avantgardistischer Sicht der Vorwurf einer schalen Reproduktion des lediglich Vorhandenen, die auf das Wagnis avancierter Formen als Mittel weitergehender Darstellung und Erkenntnis verzichtet, so steht realistische Literatur doch zugleich unter dem Vorbehalt einer herkömmlich idealistischen Ästhetik, die mit dem Mangel an besonderer Form auch den Verzicht auf den Standpunkt einer übergreifenden Deutungsinstanz oder gar den Verlust derselben verbindet. 19Demgegenüber verweisen kritische, auch sozialkritische Beiträge allzu schnell auf den lediglich affirmativen Charakter einer solchen an der Wiedergabe realer Verhältnisse und wirklichkeitsbezogenen Geschehens orientierten Literatur, was in den Debatten der 1920er Jahre den literarischen Biografismus ebenso trifft wie die Reportage-Literatur, im Rückblick auf das 19. Jahrhundert aber auch eine vermeintlich historisch perspektivlose, lediglich auf die Vermittlung von Genrebildern hin angelegte Dorfliteratur. 20
Tatsächlich aber, so hat dies Friedrich H. Tenbruck in seiner Studie zur „bürgerlichen Kultur“ ausgearbeitet, 21stellen kulturelle Träger, literarische Texte als Medien der Begleitung und Reflexion gesellschaftlicher Prozesse sowohl als Orientierungsgrößen und Spiegel als auch als Projektionsräume und Impulsgeber individueller und gruppenspezifischer Reformansätze und eines entsprechenden Selbstverständnisses ein bestimmtes Instrumentarium und Wirkungs-, auch Handlungsfeld in den Zusammenhängen einer sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbildenden, im 19. Jahrhundert dann dominierenden bürgerlichen Kultur dar. Kultur, und so auch Literatur, dient seitdem nicht mehr vor allem der Repräsentation einer mehr oder weniger festgefügten Ordnung, sondern begleitet die ins Rutschen bzw. Schwimmen geratenen gesellschaftlichen Sphären im Sinne einer selbst beweglichen, stets und immer wieder Neues und Veränderungen herstellenden Produktions- und Reflexionssphäre, wobei auch sie selbst – im Blick auf das hier in Rede stehende Thema des Lebens und der Veränderungsmöglichkeiten in ländlichen Räumen wichtig – ebenso wie die „Bürgerliche Gesellschaft“ im Ganzen tendenziell auch auf die Unabschließbarkeit weitergehender Mobilität hin angelegt ist. 22Dies betrifft die Erweiterungsfähigkeiten des Handelns einzelner Akteure ebenso wie die Möglichkeiten zur Emanzipation sozialer Gruppen und nicht zuletzt sowohl die Ansprüche als auch die Prozesse weitergehender Integration der bis dahin aus der gesellschaftlichen Kommunikation (und Teilhabe) ausgeschlossenen sozialen Gruppen, seien dies nun Frauen, die Arbeiterklasse oder eben auch die Landbevölkerungen.
Literalität ( cultural literacy ), die Befähigung zur Teilhabe an Leseund anderen Kommunikationsmöglichkeiten, bietet dazu ebenso die Voraussetzung und den Rahmen für eine kulturelle, dann eben auch soziale Integration unterschiedlicher Einzelner und Gruppen in die Gesellschaft im Ganzen wie die Ermöglichung von Schreiben und anderen Praxisformen kultureller Produktion nicht nur die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen, zumal derjenigen, die aus bislang vernachlässigten Unterschichten oder Randgruppen kommen, stärken, sondern auch zugleich deren (und ggf. aller) Wirklichkeitsverhältnis und -zugänge zu erweitern vermag: „Mit dieser Verselbständigung der Kultur“, so Tenbruck, „gewann die erlebte und bekannte Wirklichkeit für die einzelnen an Breite und Tiefe, an Gehalt und Bedeutung. Im Spiegel der literarischen, künstlerischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Behandlung und Durchdringung der bislang subjektiv als unmittelbar erlebten und deshalb kaum differenzierten Erfahrung reicherte sich nun die Selbsterfahrung durch die Sublimierung, Differenzierung und Reflektierung der Empfindungen, Gefühle, Affekte, Emotionen, Gedanken und Überzeugungen an, wie ähnlich die äußere Wirklichkeit sich durch kulturelle Informationen ständig ausdehnte und gliederte, räumlich, zeitlich und sachlich. Verselbständigung der Kultur heißt also, dass die innere und äußere Wirklichkeit unablässig durch kulturelle Arbeit weiter und neu gedeutet werden muß.“ 23
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