Der hier angesprochene Ansatzpunkt eines mit der Konstitution bürgerlicher Gesellschaft verbundenen eigenständigen Feldes kultureller Produktion und Reflexion benennt damit zugleich die kulturellen, aber auch politischen und sozialen Funktionen literarischen Schreibens für ein Leben (und Wahrgenommenwerden) in den Integrationsformen bürgerlicher, in diesem Sinn moderner Gesellschaften. Gruppenspezifisch wie gattungsspezifisch ist dieser Ansatz so aufzunehmen, dass auch das Schreiben eines autodidaktischen Bauern wie Felder im Zusammenhang jener Aushandlungsorte (auch der Ketten) bürgerlicher Vergesellschaftung als kulturelle Produktion mit entsprechenden Intentionen und Resonanzerwartungen erkennbar wird. Der literarische Markt, aber auch Bildungseinrichtungen wie Schulen, publizistische Tätigkeiten und nicht zuletzt politische Aktionen stellen sich dabei sowohl als Handlungs- als auch als Aushandlungs- und Konfliktfelder, nicht zuletzt als Diskursarenen jener bürgerlichen Gesellschaft (im Sinne dessen, was aktuell als Zivilgesellschaft angesprochen wird) dar, deren Grundriss „bürgerlicher Öffentlichkeit“ 24auch noch immer das Selbstverständnis liberaler Republiken und offener Gesellschaften so bestimmt, dass literarische Texte in irgendeinem Sinn „realistisch“ darauf Bezug zu nehmen vermögen. 25
Freilich handelt es sich auch bei einer auf die poetische Abschilderung bzw. auf einen fiktionalen Entwurf von „Wirklichkeit“ angelegten Literatur, wie sie als literarischer bzw. poetischer Realismus angesprochen werden kann, keineswegs nur um die Reduktion des weiten Feldes schönen Scheinens (und seiner Mittel) auf das eingegrenzte und spannungslose Feld bürgerlich-gesellschaftlicher Verhältnisse 26oder um die Reduktion komplexer und widerspruchsvoller Realitätsbeobachtungen auf ein „Furchenglück in der Beschränkung“, wie dies später u. a. auf Jean Paul gemünzt wurde. 27Vielmehr geht es auch hier um die Ausarbeitung eines eigenständigen Beobachtungs- und Gestaltungsansatzes von Menschen in den sie bestimmenden Situationen und längerfristigen Kontexten bürgerlicher Gesellschaft und darauf bezogener emanzipatorischer Prozesse. Dass diese Bezüge auf gesellschaftliche Wirklichkeiten im Übrigen jeweils neben ihrer objektiven Seite auch unterschiedliche und divergierende subjektive Seiten und damit sowohl diverse Wirklichkeitsaspekte als auch divergierende Lebenslagen ansprechen und ausbilden, hat u. a. Jean Paul selbst bereits in seinen Überlegungen zu der von ihm so bezeichneten „deutschen Schule“ des Romans herausgestellt: „Nichts ist schwerer mit dünnem, romantischen Äther zu heben und zu halten als die schweren Honoratiores.“ 28Zwischen Idealisierung und Komik sei mit der Zuwendung zur Realität für den Dichter die Aufgabe verbunden, „daß er doch die bürgerliche Alltäglichkeit mit dem Abendrote des romantischen Himmels überziehe und blühend färbe.“ 29
Damit ist freilich nicht, zumindest nicht vor allem, der Kitsch bzw. die politisch und historisch reaktionäre Färbung oder Überzeichnung einer ansonsten nicht auszuhaltenden und auch ästhetisch nicht zu vermittelnden Wirklichkeit gemeint, wie sie sich in der ebenfalls an die Romantik anschließenden und bis heute, folgen wir Eva Illouz’ Studien zur Aktualität und zum Gebrauchswert romantischer Liebe 30, auch noch marktfähigen Unterhaltungsliteratur wiederfinden lassen. Vielmehr widmet Jean Pauls poetisches Programm einer „romantischen“, in seinem Sinn „modernen“ Poesie der Entzweiung/ Entfremdung des Menschen und der Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne ebenso sehr Aufmerksamkeit wie es dem damit einhergehenden Transzendenz- und damit Sinnverlust Rechnung zu tragen sucht. Im Sinne eines Empowerments finden wir diesen Impuls aber bspw. auch in Felders Novelle Liebeszeichen (1867) gestaltet: Durch situationsbezogenes, zugleich entschlossenes, durchaus in seinen Reichweiten begrenztes Handeln und immer nur auf Zeit und Kontexte hin angelegt, sollen sich offensichtlich auch unter den Bedingungen moderner, „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) noch Sinn-Defizite im Medium der Literatur und des Erzählens/Schilderns/Berichtens kompensieren bzw. bearbeiten lassen.
3.
Felders Dorfgeschichten
Insoweit ist es gerade die räumlich-zeitlich und zugleich von Personal und Horizonten her beschränkte Form der Dorfgeschichte 31– und dies lässt sich dann auch auf das Verhältnis von Landreform und Literatur übertragen –, die einer unter den Bedingungen der Moderne ebenso fragmentierten wie pluralisierten Wahrnehmung der Wirklichkeit des Lebens „auf dem Lande“ Rechnung zu tragen sucht. Nicht zuletzt bestehen ihre Funktion und Bedeutung wohl darin, dass die Möglichkeiten (und Grenzen) realistischen Schreibens um 1850 ebenso zur Wahrnehmung, auch Erfahrung und Gestaltung von Wirklichkeit, in den begrenzten Räumen ländlicher Lebenswelten beizutragen vermögen 32wie sie eine Phänomenologie der Erfahrung unter den Bedingungen der Moderne vorstellen können. Zwischen der „Einübung des Tatsachenblicks“ 33durch Fragestellungen, Techniken und Erfahrungsformen empirischer Forschung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und der modellierenden Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse durch Theorie-Ansätze und nicht zuletzt auch in politisch-ideologischen Programmen kommt dabei der „schönen Literatur“ (den belles-lèttres ) wie auch anderen Künsten, so hat es Maurice Merleau-Ponty in seinen Radiovorträgen des Jahres 1948 hervorgehoben, die Funktion zu, eine Art Vermittlung zwischen Anschauung und Erkenntnis zu leisten, die sich im Falle einzelner Werke in spezifischen Situationen nicht nur als Impuls für weiteres Handeln (bspw. im Sinne eines Klassenstandpunkts oder – individuell bezogen – Empowerments) 34bestimmen lässt, sondern auch deren soziale Gestaltungsmöglichkeiten und historischen Grenzen vor Augen stellt: „Das Herz der Modernen“, so Merleau-Ponty, „ist […] ein intermittierendes Herz und vermag nicht einmal, sich selbst zu erkennen. Jedoch sind nicht allein die Werke der Modernen unabgeschlossen, sondern die Welt selbst, die in diesen Werken ausgedrückt ist, gleicht einem unabgeschlossenen Werk, von dem man nicht weiß, ob es jemals einen Abschluss finden wird. Sobald es sich nicht mehr nur um die Natur, sondern um den Menschen handelt, verdoppelt sich die Unabgeschlossenheit der Erkenntnis, die durch die Komplexität der Dinge bedingt ist, durch eine grundlegende Unabgeschlossenheit.“ 35
Felders Texte, von denen angesichts der Begrenzung von Raum und Zeit hier nur zwei etwas genauer angesprochen werden können: Liebeszeichen (1867) und Ein Ausflug auf den Tannberg (ebenfalls 1867 gedruckt) bieten in ihrer Konkretion ziemlich genau das, was hier im Rückgriff auf Merleau-Ponty als Möglichkeit und Leistung der belles-l èttres unter den Bedingungen der Moderne zur Verlebendigung ländlicher Lebenserfahrungen und Lebensverhältnisse erwartet und vermittelt werden kann: Sie handeln von den Lebensbedingungen ländlicher Gesellschaften im Konkreten, von der Besonderheit der angesprochenen Individuen, ohne sie in ihrer Komplexität und damit auch Uneindeutigkeit zu reduzieren. Das freilich beansprucht zugleich eine Leserin, einen Leser, der bereit (befähigt) ist, die damit angesprochenen Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten nicht nur anzunehmen, sondern sie auch im Sinne des oben mit Tenbruck angesprochenen gesellschaftlichen Bedarfs an kultureller Reflexion mit den eigenen Lebenserfahrungen und Wirklichkeitskonzepten in Verbindung zu bringen. Für das hier in Rede stehende Handlungs- und Arbeitsfeld der Landreform hat diese Aufladung mit Komplexität, wie sie ästhetischen Gebilden eigen ist, freilich auch Konsequenzen, die noch einmal über sozialgeschichtliche (oder politische) Aspekte eines in diesem Sinne engagierten Schreibens hinaus die Eigenart der Texte Felders auch hinsichtlich ihrer ästhetischen Gestalt und ihres historischen (auch aktuellen) Stellenwerts in den Blick rücken. Ob damit die Waage, wenn sie in Richtung ästhetischer Valenz ausschlägt, dies zugleich auf Kosten politischer Relevanz/Eindeutigkeit machen muss, oder ob diese gerade als Wert die politische Bedeutung vielleicht auch erhöhen kann (ggf. auf Kosten einer vermeintlich zu erwartenden Eindeutigkeit, die selbst im Politischen schadet), wäre im Blick auf die einzelnen Texte – und sicherlich kontrovers – weiter zu diskutieren.
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