So leben wir – wir versuchen die Außenwelt so zu manipulieren, daß unsere innere Welt Ruhe haben kann. Aber dieser Kampf ist ein aussichtsloses Unterfangen; so verschaffen wir uns keine Zufriedenheit. Dieses Beispiel für unseren inneren Prozeß weist auf eine Grundtatsache unserer ständigen Erfahrung hin: Wir können uns selbst nicht in Ruhe lassen. Alles innere Handeln enthält eine gewisse Ablehnung unseres gegenwärtigen Zustandes, unserer eigentlichen Realität. Und diese Haltung der Ablehnung hat eine tiefere Konsequenz: Dadurch, daß wir ablehnen, was für uns im gegenwärtigen Augenblick da ist, lehnen wir uns selbst ab. Wir sind mit unserem Sein (Being) nicht in Kontakt. Dadurch, daß wir uns auf die Zukunft hin orientieren, opfern wir die Gegenwart. Wenn wir außerhalb von uns selbst nach dem suchen, was uns fehlt, setzen wir uns, unsere Seele(n), dem Schmerz der Verlassenheit aus.
Tatsache ist aber: Nichts fehlt. Unsere wahre Natur ist wirklich immer da. Unsere wahre Natur ist Sein. Und alles besteht aus dieser wahren Natur: Steine, Menschen, Wolken, Pfirsichbäume– alle Dinge in unserem Leben. Diese Dinge existieren aber nicht unabhängig von uns, so wie wir es von ihnen glauben. Was wir in Wirklichkeit sehen, sind die verschiedenen Formen von Sein. Um Sein selbst, also das Wesen dessen, was wir in Wahrheit sind, zu verstehen, müssen wir zur inneren fundamentalen Natur von Existenz vordringen. Um für diese fundamentale Natur offen zu sein, müssen wir in Frage stellen, was wir zu sein glauben: Bin ich wirklich ein männlicher Weißer mit einer bestimmten Körpergröße, einem bestimmten Körpergewicht, von soundsoviel Jahren und mit einer Adresse und der durch meine persönliche Geschichte definiert ist? Und wenn ich das nicht bin, was dann?
Wir sind wie der Fluß, der nicht weiß, daß er im Grunde aus Wasser besteht. Er hat Angst davor, sich auszudehnen, weil er glaubt, er wäre dann vielleicht kein Fluß mehr. Aber wenn man einmal weiß, daß man Wasser ist, was macht es dann für einen Unterschied, ob man ein Fluß oder ein See ist?
Ihr Sein ist das, was sich ständig als Sie selbst manifestiert. Es denkt, indem es Ihr Gehirn benutzt. Es geht, indem es Ihre Beine benutzt. Aber in Ihrer alltäglichen Erfahrung denken Sie, Sie wären ein Bündel von Armen und Beinen und Gedanken, und erleben nicht die Einheit, die Ihrer ganzen Erfahrung zugrundeliegt.
Wenn wir mit dem Sein nicht in Kontakt stehen, empfinden wir eine Art Hohlheit. Uns fehlt dann ein Gefühl von Ganzheit oder Wert oder Fähigkeit oder Sinn. Wir suchen vielleicht endlos nach angenehmen Empfindungen oder Zufriedenheit, aber ohne eine Wertschätzung für unsere wahre Natur entgeht uns der größte Teil der Lust, die wir in unserem Leben haben könnten.
Unsere Natur, unser Sein, ist das Wertvollste, was es gibt, doch verlieren die meisten von uns den Kontakt dazu, wenn wir davon träumen, darauf hoffen, dahin planen und darum kämpfen, das zu bekommen, was wir für ein gutes Leben halten. Wir wollen die richtige Ausbildung, den besten Job, den idealen Partner. Aber ohne eine gewisse Wertschätzung für unsere wahre Natur landen wir an den Randbereichen des Lebens und schmecken immer nur eine fade Imitation des Nektars der Existenz.
Sein manifestiert sich gegenüber sich selbst durch uns, als Menschen. In uns schaut das Sein seine Schönheit und feiert seine Majestät. Unsere Erfahrung von uns selbst in unserer Totalität und unserer Berührbarkeit ist das, was wir beim Diamond Approach mit dem Begriff Seele meinen. Die Seele ist das, was erfährt, und sie ist die gelebte Erfahrung selbst. Sie ist der innere, psychische Organismus, das individuelle Bewußtsein, das der Ort aller Erfahrung ist. Die menschliche Seele ist reine Potentialität, die Potentialität von Sein. Sie ist auch die Weise, wie das Sein sich in seiner ganzen Großartigkeit öffnet und seinen Reichtum manifestiert.
Um den Reichtum unseres Seins, das Potential unserer Seele zu erfahren, müssen wir zulassen, daß unsere Erfahrung immer offener wird, und zunehmend in Frage stellen, wofür wir uns halten. Gewöhnlich identifizieren wir uns mit einem sehr begrenzten Teil unseres Potentials, mit dem, was wir das Ego oder die Persönlichkeit nennen. Manche nennen es das kleine Selbst. Aber diese Identität ist eigentlich eine Entstellung dessen, was wir in Wirklichkeit sind, nämlich ein vollkommen offenes Strömen aus dem Mysterium des Seins.
Ein Mensch ist ein Universum an Erfahrungen, mit vielen Facetten und Dimensionen. Jeder von uns ist eine Seele, ein dynamisches Bewußtsein, ein magisches Organ für Erfahrung und Handeln. Und jeder von uns ist in einem ständigen Zustand von Transformation – von einer Erfahrung, die sich für eine andere öffnet, von einer Handlung, die zu einer anderen führt, einer Wahrnehmung, die sich in viele andere vervielfältigt; von Wahrnehmung, die zu Wissen heranwächst, von Wissen, das zu Handeln führt, und Handeln, das mehr Erfahrung erzeugt. Dieser Entfaltungsprozeß ist permanent, dynamisch und voller Energie. Dies ist die eigentliche Natur dessen, was wir Leben nennen.
Die duale Dynamik der Erfahrung
Die Schönheit des Lebens besteht darin, daß sie ein ständiges Öffnen für die ganze Weite der Erfahrung und für den Reichtum sein kann, die dem Menschen möglich ist – für die dynamische Entfaltung des menschlichen Potentials. Dieses Leben kann eine Feier des Geheimnisses unseres Seins sein. Wir können ein Leben der Liebe leben, indem wir Freude an uns selbst, an anderen Menschen und am Reichtum unseres Heimatplaneten haben. Unser Leben kann voller Wertschätzung, Sensibilität und Staunen für alles sein, was uns umgibt. So ein Leben kann ein spannendes und aufregendes Abenteuer von Lernen, Reifen und Expansion sein.
Aber es kann auch ein Leben in Unfrieden, in Kampf, Elend und Depression sein, das oft von Leiden, Frustration, Neid und Aggression erfüllt ist. Es kann uns leicht passieren, daß wir ein Leben in Selbstbezogenheit, Zwiespalt und Ausbeutung führen. Wenn das geschieht, wird das Leben bald stumpf, langweilig und oberflächlich – wobei sich der Unterton sadistisch und brutal anfühlen kann.
Auch in solchen Zeiten verliert das Leben niemals seinen dynamischen und transformativen Charakter, aber die Entfaltung des Seins enthüllt vor allem die dunklen und destruktiven Möglichkeiten unseres Potentials, die negative und depressive Seite menschlicher Erfahrung. Die Frische und Kreativität des menschlichen Geistes sind überschattet, der freudvolle Funke gedämpft und zum Erlöschen gebracht und die Schärfe unserer Klarheit abgestumpft. Wir neigen dazu, in Unwissenheit zu leben, von primitiven Bedürfnissen und Begierden getrieben zu sein. Das Gefühl für unser Menschsein verläßt uns: Auch wenn wir wissen, daß wir Menschen sind, vergessen wir den Wert und die Köstlichkeit unserer Sanftheit, Freundlichkeit und Verletzlichkeit.
Unser Leben ist selten die reine Manifestation nur einer Seite unseres Potentials – sei es die der Freiheit oder die der Dunkelheit. Die meisten von uns leben eine Mischung von beiden mit sich ständig verändernden Anteilen. Natürlich arbeiten wir alle sehr angestrengt daran, Freiheit und Freude zu maximieren, aber wir wissen aus bitterer Erfahrung, wie schwer das ist. Wir versuchen dieses und jenes, hören auf diesen Lehrer oder jene Autorität, verlieren den Mut und erneuern unsere Entschlossenheit, aber selten sind wir uns sicher, was uns zu den Zuständen bringen wird, die wir begehren. Selten erleben wir die positiven menschlichen Möglichkeiten, die wir sehnlichst verkörpern möchten. Doch auch wenn sie sich wirklich in unserer Erfahrung manifestieren, bekämpfen wir sie häufig oder bekommen Angst vor ihnen. Wir sehnen uns danach, zu expandieren und unser Menschsein zu vervollkommnen, und unternehmen große Anstrengungen, um das zu erreichen, aber scheitern oft und sind schließlich frustriert. Unsere Erfolge sind kümmerlich und anscheinend nie von Dauer.
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